Stets kritisch

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Montag, 30. September 2013

Veggie-Day – Realpolitik erklimmt neue Höhen



Veggie-Day – Realpolitik erklimmt neue Höhen - Von Philipp Heine

In unserer politisch korrekten Oase Deutschland erscheint ein neuer Stern der Vernunft am Firmament: Der Veggie-day. Angesichts der Heerscharen von Mitbürgern, die für ihr Gewicht zwei Meter zu klein geraten sind, scheint der Vorschlag, all jene, die auf die kulinarischen Genüsse des Kantinenessen täglich angewiesen sind, an einem Wochentag per Dekret auf vegetarische Schonkost zu setzen, einleuchtend. Auch das Argument, dass Fleischverzehr – wie eigentliche alle Äußerungsformen der modernen Gesellschaft und des Wohlstands – klimaschädlich sei, lässt den nach Ängsten süchtigen Deutschen wenigstens kurzfristig nicken.
 
Nun ist es aber so, dass verschiedene Erfahrungen in meinem Leben, die ich im Umgang mit der vegetarischen Küche und ihren oft streitbaren Vorkämpfern gemacht habe, gewisse Alarmglocken erklingen lassen und mich zu einem kritischen Innehalten zwingen.
Ich möchte diese Erfahrungen kurz skizzieren:
 
Fast jede gemeinsame Mahlzeit mit Vegetariern und erst recht mit jenen modernen Märtyrern, die sich Veganer nennen, führte zu einer deutlichen Verschlechterung des Genusses und des Wohlbefindens. Nahm ich Fleisch zu mir, fühlte ich mich – meist zu Recht – einem zeigefingerwedelnden Blick ausgesetzt, dessen einziger Zweck die Erzeugung von schlechtem Gewissen war. In vielen Fällen blieb auch eine Belehrung nicht aus, die entweder pädagogisch wohlwollend oder offen feindselig ausfallen konnte. Unter diesen Bedingungen büßt selbst das beste Filetsteak einen Großteil seiner normalerweise herrlichen Wirkung ein. Entschied ich mich hingegen, der vegetarischen Küche eine Chance zu geben, so sah ich mich regelmäßig mit Variationen von Tofu, Bratlingen, Germknödeln, Aufläufen oder den Beilagen eines normalen Hauptgerichts, dem der Höhepunkt abhandengekommen war, konfrontiert. Wäre ich eine Frau, hätte ich freudig in die Hände geklatscht und gerufen: „Oh schön, es ist nicht zu mächtig!“. Ich bin aber keine. Entsprechend wird es kaum überraschen, dass eine Mehrheit dieser Versuche mit der Gewissheit endete, dass das Schnitzel mit Pommes sogar dann besser gewesen wäre, wenn ein Veganer beim Verzehr zugeschaut hätte.
 
Wenn ich mich also empathisch in die Kantinenkunden hineinversetze und mir vorstelle, den Rest meines Arbeitslebens damit zuzubringen, einmal pro Woche eine gesetzlich verordnete Enttäuschung zu erleben, dann beginnt die Genialität der Idee „Veggie-Day“ in meinem Kopf zu bröckeln.
Derart emotional aufgewühlt drängt sich mir die Frage auf, wie eine solche Idee entstehen konnte.
 
Urheberin des Projekts sind – wie könnte es auch anders sein – die Grünen. Bei den Grünen handelt es sich um eine Wellness-Partei, die es besonders Studenten, Lehrern und Jüngern der 68er-Bewegung ermöglicht, sich stets im Recht zu fühlen, indem sie alles, was schädlich, ungesund und politisch inkorrekt erscheint kategorisch ablehnt. Zu diesen Dingen zählen etwa Infrastruktur, Verkehr, Verteidigung und moderne Technologien. Grundsätzlich zweifelhafte Dinge abzulehnen ohne tragfähige und finanzierbare Alternativen anzubieten, macht die Grünen moralisch nahezu unangreifbar. Die einzige Alternative, die die Grünen seit jeher anzubieten hatten, waren die alternativen Energien, die nun aber leider zum Allgemeingut geworden sind. Damit die konzeptionelle Planlosigkeit der Partei nun vor der Bundestagswahl nicht zu einer Entzauberung führen könnte, brauchte es etwas Beherztes und Handfestes: Den Veggie-Day.
 
Warum mache ich mir nun die Mühe, dieses politische Kleinod zu kommentieren?
 
Die Antwort wirft ein düsteres Licht auf meine Person: Ich bin bekennender Fleischesser, Raucher und Autofahrer.
Seit der Nazi-Zeit haben die (meisten) Deutschen zu Recht gelernt, dass es verwerflich ist, einen Menschen aufgrund seines Geschlechts, seiner Religion oder ethnischen Herkunft zu diskriminieren. Es ist anzuerkennen, dass die Grünen stets eine politische Speerspitze dieses Lernprozesses gewesen sind. Tragischer Weise hat das Trauma des Dritten Reichs auch zu Scheuklappen geführt, die Diskriminierung ausschließlich mit den genannten Unterscheidungsmerkmalen in Verbindung bringt. Die Diskriminierung  und Ausgrenzung von Fleischessern, Rauchern und Autofahrern ist politisch völlig korrekt. Ironischerweise tun sich die sonst so integrativen Grünen hier als Hauptakteure hervor. Rauchen, Fleischessen oder Autofahren ist nur dann tragbar, wenn eine Behinderung, ein Migrationshintergrund oder eine religiöse Einstellung als Begründung herhalten könnte. Leider trifft nichts davon auf mich zu.
 
Ich finde es mehr als Bedenklich, dass in der Politik Deutschlands und Europas eine Tendenz spürbar wird, die zu einer ängstlichen und wohlmeinenden Bemutterung der Bürger führt. Wie ein kleines unmündiges Kind will uns die Übermama Regierung per Gesetz dazu zwingen, stets vernünftig und gesund zu leben. Alles was man tut, wird daraufhin analysiert, ob dabei kleine Kinder zu Schaden kommen könnten. Leider wird darüber vergessen Kita-Plätze zu finanzieren und ein einheitliches Schulsystem einzuführen.
Es zeichnet sich also ab, dass in kleinen und kaum merklichen Schritten die Freiheit und Mündigkeit der Bürger eingeschränkt werden. Ich könnte mit weniger Freiheit zum Wohle aller gut leben, wenn es sich nicht dummerweise bei den verbotenen Dingen genau um die handelte, die das Leben lebenswert machen. Ich bin überzeugt, dass auch Vernunft in Maßen genossen werden sollte.
Ich bin übrigens sicher, dass am Veggie-Day wie aus dem Nichts plötzlich Imbiss-Wagen vor allen Kantinen erscheinen und den Umsatz von Fleisch aus der Massentierhaltung in die Höhe treiben werden. 
 
Ich wünsche Ihnen allen einen guten Appetit!

Philipp Heine

Deutschlounge – Ein Wintermärchen



Deutschlounge – Ein Wintermärchen - Von Philipp Heine

Einst, als ich noch kindlicheren Gemüts war und die Welt groß und bunt, nur getrübt von Schlaghosen, weiblichen Achselhaaren und unrasierten Männern mit beängstigenden Frisuren, da sah es in deutschen Wohnungen und Gaststätten noch anders aus. Deutlich stachen die Anzeichen ins Auge, die die Anwesenheit eines mächtigen Alphamännchens und Jägers markierten: Keine verzärtelte Kiefer, sondern teutonische Eiche gab den Ton an. Gelegentliche Geweihe und röhrende Hirsche an den Wänden warnten vor geübter Überlegenheit im täglichen Überlebenskampf. Zinnteller mit alten Stadtansichten machten unmissverständlich klar, dass das mittelalterliche Feudalsystem hier noch gelebt wurde. Die Gaststube, die nichts anderes war, als das erweiterte Wohnzimmer der kampferprobten Recken, zeigte sich in gleichem Kleide.
 
Auch wenn die Welt schleichend von einer neuen Generation unterwandert wurde, die IKEA-Möbel kaufte und zu weich war, die Macht vom Vater zu übernehmen, gab es Rituale, die die sich gegenseitig mehr und mehr misstrauenden Generationen an einen gemeinsamen (Eichen-) Tisch führten: Rauchen, Saufen und Schwadronieren. Drei Grundpfeiler der deutschen Kultur, die den Zusammenhalt der Volksgemeinschaft garantierten. (Das Schießen fiel alliierter Übermacht zum Opfer.) Entsprechend konnte man diesen Tätigkeiten überall nachgehen. Selbst im Fernsehen oder im Kino gehörten Bier und Zigarette zum guten Ton.
 
Das Bild der deutschen Lebenswelt hat sich seither gewandelt. Jene alten Vertriebenen, die über das zugefrorene Haff den roten Horden entkamen, sind weggestorben. Heute bin ich ein Vertriebener, allerdings mit Schuhen und Mantel. Täglich stehe ich draußen, in Wind, Regen und Schnee, und blicke –verträumt frierend und an meiner Zigarette ziehend – zurück in den warmen Schankraum oder das Wohnzimmer, in denen Rauchverbot herrscht. Der meditative Charakter, den dieses kurze Exil hat, verschaffte mir neulich einen wunderbaren Moment der Klarheit. Ich erkannte, wohin sich Raumgestaltung und Gesellschaft in Deutschland wandeln: Zu einer Lounge.
 
Vor Tine Wittler kannten nur all jene Deutschen diesen Begriff, die regelmäßig auf Geschäftsreisen waren. Heute entspricht „Lounge“ dem, was vormals Renaissance oder Gotik hieß. Es handelt sich um eine Stilform, die gestalterisch das Wesen der Gesellschaft spiegelt.
Auf den ersten Blick besteht die Lounge aus einem Raum, der mit stiltypischen Farben, Materialien, Einrichtungsgegenständen und Dekorationen ausgestattet ist. Zu diesen zählen warme, oft erdfarbene oder rote Wandfarben, Möbel und Bodenbeläge aus dunklem Tropenholz, wenige pointierte Dekorationselemente, die gern in goldener Farbe gehalten sind und Worte oder kurze Sinnsprüche, die als dezenter Kontrast auf die Tapete aufgebracht sind.
 
Zusammengefasst ist eine Lounge die wärmste Form von Sterilität, die mir bislang begegnet ist. Edles Material trifft auf aufgeräumte Ordnung und unaufdringliche Verzierungen, die den Blick für einen kurzen Moment erfreuen. Nichts stört oder provoziert eine Reaktion, die die Raumgestaltung in den Fokus der Wahrnehmung rücken würde. Alles ist nett, aber neutral.
Wie kommt es, dass ein solcher Stil, der augenscheinlich bestens für Flughäfen oder Hotels geeignet ist, Einzug in deutsche Wohnungen und Gaststätten, die Tempel der deutschen Seele,  gehalten hat? 
 
Seine Gäste in einer Lounge empfangen zu können, vermittelt den Hausherren und Hausdamen ein Gefühl der Teilhabe. Nämlich der Teilhabe an einem besonderen gesellschaftlichen Status. Man möchte als jemand wahrgenommen werden, der vermögend, weltgewandt, geistreich und der „executive business-class“ zugehörig ist. Vermutlich trifft das in der Realität nur auf einen Bruchteil der Lounge-Inhaber zu. Auch in der Kaiserzeit richteten sich die Kleinbürger derart ein, wie der Adel - nach ihrer Vermutung - zu residieren pflegte. Hinzu kommt die Tatsache, dass der Lounge-Stil einen Kompromiss geschlechtsspezifischer Vorlieben im Umgang mit Wohnungsgestaltung bietet: Männliche Sachlichkeit wird kollisionsfrei mit weiblichen Deko-Bonbons kombiniert. Politisch korrekte Harmonie, die auch noch pflegeleicht ist. 
 
Auf den zweiten Blick wird jedoch auch klar, welche Elemente Fremdkörper in dem reinen Ambiente der Lounge wären: Die verlotterten Mitglieder des Prekariats und Grübler, die alles hinterfragen und nicht einfach aalglatt „machen“.
Mich beschleicht das ominöse Gefühl, dass die deutsche Gesellschaft einen zunehmend loungeartigen Charakter annimmt. Ich finde dies einerseits beängstigend, habe aber andererseits gelernt, dass in Lounges oft leckere Schickimicki-Drinks gereicht werden, wie etwa Aperol-Spritz, mit denen man sich die Situation ungemein schön trinken kann.
 
Am Ende dieser Reflexion ist mir völlig bewusst, dass meine Frau mir vorhalten wird, dass ich nur versuche mein chronisches Chaos zu rechtfertigen und mich vor dem Aufräumen zu drücken. Es wird mir zwar schwerfallen diesen Vorwurf zu entkräftigen, aber eine Lounge kommt für mich nicht in Frage. Zu langweilig für meinen Geschmack.
 
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der nächsten Wohnungsrenovierung!
 
Philipp Heine

Von der Todesnähe und Zweirädern



Von der Todesnähe und Zweirädern - Von Philipp Heine

Wer – außer den Angehörigen der virtuellen Generation -  erinnert sich nicht an jene lauen Sommerabende, an denen man auf dem Rücken im Gras lag und in die Unendlichkeit der Sterne blickte. Klein kam man sich vor, und man staunte über Weisheit und Ratschluss jener höheren göttlichen Macht, die all dies geschaffen hatte. Zunehmend beschleicht mich jedoch das blasphemische  Gefühl, dass der große Schöpfer entweder einen merkwürdigen Humor oder eine sadistische Tendenz haben könnte. Die Anzeichen dafür werden sowohl auf makrokosmischer als auch mikrokosmischer Ebene sichtbar. Alles weist darauf hin, dass die Selbstzerstörung der erschaffenen Wesen eine wesentliche Pointe des göttlichen Lustspiels ist. Es scheint ein Naturgesetz zu sein, dass all jene Dinge, die angenehm und erfreulich sind, gleichzeitig auch die gefährlichsten sind. Gutes Essen, Sex, Alkohol, Autofahren oder Rauchen, alles resultiert in Krebs, Herzinfarkt oder AIDS. Diejenigen Menschen, die aus Todesangst auf die schädlichen Freuden verzichten, leben häufig länger und müssen sich nicht vor dem Tod fürchten, da dieser sich kaum von ihrem bisherigen Leben unterscheidet. Der Schöpfer lächelt fein.
 
Ich möchte den perfiden kosmischen Plan im Kleinen an einer besonderen Gruppe von Menschen nachweisen, die außergewöhnlich gut anschaulich machen, dass man nicht entkommen kann: Die Radfahrer.
 
Eine Reihe von merkwürdigen und zugleich arttypischen Begegnungen mit Vertretern dieser Subkultur hat mich bewogen, dieses Thema aufzugreifen und zu vertiefen:
 
Tief in Gedanken spazierte ich vor einigen Tagen durch die sonndurchflutete Innenstadt, als plötzlich  ein gellender Schrei ertönte, gefolgt von lauten Gebrüll. Mein erster Verdacht war, dass ich Zeuge einer Verschleppung sein könnte. Wieder wird ein unschuldiger Fanatiker von den Häschern der CIA nach Guantanamo entführt. Doch nein! Das Bild, das sich mir bot war ein ganz anderes: Am Straßenrand stand ein zorniges Männlein mit Fahrrad, das drohend seine kleine Faust gegen einen Autofahrer richtete, der es vermutlich seiner Vorfahrt beraubt hatte. Flüche und Schimpfworte wurden betont laut ausgestoßen, als sollten sie der Öffentlichkeit mitteilen „Hilfe, hier wird ein Mensch unterdrückt!“. Der Mann trat standesgemäß auf, nämlich in beige Hose und Outdoorjacke gewandet, Sandalen ohne Socken, ergrauter getrimmter Vollbart und Brille, was ihn als Beamten des öffentlichen Dienstes mit Hauptfächern Deutsch und Sozialkunde auswies. Auf seinem Haupte saß der geforderte Schalenhelm, der in meiner Jugend zu unausweichlichem Verprügeltwerden durch größere Mitschüler geführt hätte. Erleuchtung traf auf rohe Barbarei.
 
Nur einen Tag später fuhr ich mit meinem Auto auf eine Landstraßenkreuzung zu, als, wie aus dem Nichts, ein unglaublich aerodynamischer Mensch auf einem Rennrad besagte Kreuzung auf meiner Seite der Verkehrsinsel schnitt und mir auf meiner Straßenseite entgegen kam. Vor Schreck konnte ich nicht einmal den Namen des Sponsors auf seinem Trikot erkennen. In mein Gedächtnis brannte sich nur dieser komplett ungerührte, ja todesverachtende Blick, der mich vollständig zu ignorieren schien.
Die dritte denkwürdige Episode ereignete sich heute Morgen, als ich mit dem Hund zum Gassigehen fuhr. Auf dem Weg kam mir auf einem Rad ein älterer Herr entgegen. Wir befanden uns in einer Tempo-30-Zone, die ich mit Tempo 30 durchquerte. Dennoch gab mir der Herr mit einer Auf-und-ab-Winkbewegung zu verstehen, dass mein Fahrtempo irgendeine Art der Bedrohung darstellte. Ich ging zunächst dankbar und optimistisch davon aus, dass er mich vor einigen jener Prätorianer des öffentlichen Rechts warnen wollte, die sich gelegentlich heldenhaft mit einem Blitzgerät hinter Büschen verstecken, um so ihren Kampf gegen Gewalt, Korruption und organisiertes Verbrechen zu führen. Nach einigen hundert Metern musste ich feststellen, dass es sich nicht um eine solche Warnung gehandelt hatte, da kein Blitzer zu sehen war. Das Winken war also kein Akt der Freundlichkeit, sondern Ausdruck pensionierter Verkehrspädagogik. Welch eine menschliche Enttäuschung!
 
Was verbindet nun diese drei Alltagsgeschehnisse miteinander?
Das Radfahren scheint den Menschen in einen euphorischen Zustand der absoluten Selbstsicherheit zu versetzen. Sportliche Endorphin-Ausschüttung im Zusammenklang mit dem Gefühl sich gesund und zugleich umweltbewusst zu bewegen hat offensichtlich eine ähnliche Wirkung wie Kokain. Kommt zu diesem Cocktail noch ideologisches Sendungsbedürfnis hinzu, so entstehen zweirädrige Kreuzritter, die selbst den Tod nicht fürchten. Ein Phänomen, das man bereits von den Taliban kennt.
Selbst die härtesten Vorkämpfer gegen Konsum, Beschleunigung und materielle Wollust entgehen ihrem Schicksal nicht. Ihre hormongesteuerte Selbstherrlichkeit führt sie zunächst in einen Kühlergrill und dann in den Lobbybereich der Schöpferresidenz.
Ich versichere, dass dieser Beitrag nicht die Einführung eines Führerscheins für Radfahrer propagieren soll. Das wäre vermutlich so sinnvoll wie der Versuch, den Afghanistankonflikt durch Einführung einer Waffenscheinpflicht zu beenden. Ich möchte lediglich anregen, leise gen Himmel zu lauschen, wenn wieder einmal ein verhaltensauffälliger Radfahrer vorbeigefahren ist. Vielleicht ist ja der Nachhall eines hysterischen Lachens zu vernehmen.
 
Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Ausflug ins Blaue, aber lassen Sie sich nicht von den lockenden Rufen der Verlorenen verleiten, die durchgezogene Linie der Vernunft zu überradeln.

Philipp Heine

Die roten Schwestern der Resignation



Die roten Schwestern der Resignation - Von Philipp Heine

Für den modernen Menschen ist es ebenso befriedigend wie abstoßend, in eine Schublade mit anderen gesteckt zu werden. Stets bewegt er sich auf dem schmalen Grat zwischen dem Wunsch einzigartig zu sein und dem Bedürfnis, einer Gemeinschaft anzugehören. Andere Menschen zu kategorisieren und zu generalisieren ist aus gutem Grund moralisch anrüchig, bereitet jedoch – vielleicht gerade deshalb -  ein unglaublich großes Vergnügen.

Bereits seit dem Morgengrauen der menschlichen Geschichte drücken Menschen ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen, wie etwa religiösen Gemeinschaften, Berufsgruppen, Adel, oder militärischen Rängen, durch spezifische Kleidung, Frisuren oder Schmuckgegenstände aus. Auf diese Weise entsteht im Chaos des Lebens eine angenehme Ordnung.  Für die individuelle Beurteilung der Situation ist es von großer Wichtigkeit, ob die Person an der Kreuzung nackt ist, eine Polizeiuniform trägt, einen bunten Haarkamm und diverse Sicherheitsnadeln am Körper trägt oder mit Mitra und weißer Frauenkleidung angetan in einem gläsernen Panzerfahrzeug sitzt.

Ich selbst habe von Kindesbeinen an gelernt, welche Weltanschauung ich von einem Menschen zu erwarten habe, der eine Glatze hat, Springerstiefel und Lonsdale-Klamotten trägt und merkwürdigerweise gar kein Baseball spielen kann. Ich weiß auch, dass ein Mann, dessen gesamter Körper in einem Latexstrampler steckt und der an der Leine durch den Park geführt wird, vermutlich dem gehobenen öffentlichem Dienst angehört, da er augenscheinlich über genügend Gehalt und die soziale Kompetenz verfügt, die es ihm erlaubt, zwischen nötiger Autorität und beamtetem Gehorsam abzuwägen. Ich hatte auch nie Zweifel daran, dass mir ein Langhaariger mit Aufnäherjacke und Thors Hammer am Lederband eher den Unterschied zwischen Speed- und Deathmetal erklären kann, als ein Seppelhutträger mit Janker und Gamsbart.

Ein historischer Wendepunkt für die Kunst der Menschenidentifikation stellte sich mit dem Zusammenbruch des realversuchten Kommunismus ein. Gemeinsam mit den 80er Jahren starben auch die Eindeutigkeiten und klaren Fronten. Und just in dieser Zeit der modischen sowie ideologischen Verwirrtheit erschienen die ersten Vertreterinnen einer geheimnisvollen neuen Gruppe in der deutschen Öffentlichkeit, die sich jeglicher politischen, religiösen oder musikalischen Zuordnung bis heute erfolgreich entziehen.

Obwohl über ihrem gemeinsamen Anliegen ein mystischer Schleier liegt, so ist doch die Uniformität ihrer Erscheinung beeindruckend. Selbst Soldaten oder Skinheads sehen sich nicht so ähnlich: Es handelt sich ausschließlich um Frauen, die älter als 25 Jahre sind, ein Minimalgewicht von 60 kg aufweisen und auf Weisung bisher unbekannter Oberer beschlossen haben, ihre Haare (unter Berücksichtigung fransiger Koteletten) kurz schneiden und rot färben zu lassen. Sie kleiden sich stets mit Hosen (Jeans oder weiten Bügelfaltenhosen) und tragen dazu gern eine weite Seidenbluse in Pastellfarben mit passendem Halstuch. Wird eine Brille benötigt, so fällt die Wahl auf solche mit rechteckigen Sehschlitzen und – oft bunten – gleichbreiten Plastikbügeln. Erstaunlicherweise hat sich in den letzten 20 Jahren nichts an diesem Erscheinungsbild geändert, was in krassem Gegensatz zu regulären Modeerscheinungen steht.
Ich muss gestehen, dass mir die Motive komplett verborgen sind, die zu einer solchen Umdekoration führen könnten. Die Zugehörigkeit zu einer musikalischen Subkultur ist sehr zweifelhaft. Wenn ich erraten sollte, was für Musik im Pumuckl-Orden gehört wird, dann käme ich zu unterschiedlichen Ergebnissen, wie etwa Andrea Berg, PUR, Peter Maffay oder vielleicht sogar den Scorpions oder gar Unheilig. Diese Erkenntnisse sind wenig hilfreich. Trotz der roten Haarfarbe kommt auch eine politische Einordnung überhaupt nicht in Frage. Religion und sexuelle Vorlieben? Fehlanzeige! Es fällt auf, dass es auch keinerlei öffentliche Veranstaltungen speziell für diese Gruppe, die ja keine unbedeutende Größe hat, gibt. Wo ist das Bindeglied, der gemeinsame Nenner, der tausende Frauen seit Jahrzehnten ohne jegliches kommunikatives Forum zusammenhält?

Analysieren wir die vorliegenden Fingerzeige:
Zunächst zur Kleidung. Diese dient eindeutig nicht der Unterstreichung der körperlichen Proportionen, sondern im Gegenteil, diese zu überdecken. In Farbgebung und Schnitt ist sie beinahe deckungsgleich mit der Mode, die von vielen Rentnern etwa ab dem 65. Lebensjahr getragen wird.
Die roten Haare und die dezent aggressive Brillenform setzen einen gegensätzlichen Akzent, der gewisse Ähnlichkeiten zur Gothic-Scene aufweist. Traditionell werden rote Haare mit Hexerei und Aufsässigkeit gegen das Althergebrachte assoziiert. Sie sind aber auch das Klischee des stummen Schreis nach Aufmerksamkeit.

Die seit langer Zeit unveränderte Gesamterscheinung macht deutlich, dass das Ziel, um die Gunst des anderen Geschlechts zu werben, anscheinend vollständig aufgegeben wurde.
Es zeichnet sich ab, dass jener Seelenzustand, der scheinbar die Wurzel der Gemeinschaft bildet, ein düsterer ist.

Aus überwältigendem Selbstzweifel und Mangel an innerer Stärke, die vermutlich aus Verzweiflung über den Mangel gesellschaftlich geforderter körperlicher Perfektion resultiert, resignieren die Damen und schicken sich an, bereits vorzeitig die Gewänder des Greisenalters anzulegen. Um sich von deren rechtmäßigen Inhabern abzusetzen, färben sie ihre Haare rot. Durch dieses „freche“ Detail inmitten gepflegter Neutralität versuchen sie einen Hauch von Revolution anklingen zu lassen. Allerdings erfolglos.

Liebe Eltern übergewichtiger Töchter!
Ich rufe Sie zu Wachsamkeit und Prävention auf. Sollte ihr Nachwuchs zu erkennen geben, dass rote Haarfärbemittel immer interessanter werden, oder sollten Sie im Jugendzimmer auf Kataloge von Sanitätshäusern stoßen, dann werden Sie aktiv. Seien Sie mitfühlend und zeigen Sie Alternativen, wie etwa Piercings, Tätowierungen oder den Konsum von Modedrogen auf. Sollte dies nicht wirken, dann öffnen Sie ihr Herz weit und bieten selbst abwegige Lösungen, wie eine Geschlechtsumwandlung oder ein Jura-Studium an. Alles ist besser und hoffnungsvoller, als der resignative Schritt in ein modisches inneres Endlager.

Ich wünsche Ihnen viel Glück. Mögen ihre Kinder nicht in den Strudel der roten Kurzhaarträger geraten.

Philipp Heine