Zeugenschutzprogramm - Von Philipp Heine
Wie um alles in der Welt kommt ein erwachsener und
intelligenter Familienvater auf die Idee, zu einer halbautomatischen
Schusswaffe zu greifen, gutturale Laute auszustoßen und eine Ansammlung
unbekannter Passanten ins Jenseits zu befördern?
Als ich gestern erschöpft von der Arbeit kam und naiv
dachte, das Fernsehen könnte mir auf gemütliche Art den Abend versüßen, musste
ich feststellen, dass ich einer Beantwortung dieser Frage erschreckend nah kam.
Nicht etwa, weil mir eine Wissenschaftssendung psychopathologische
Zusammenhänge erklärte, sondern weil das Programm, wie eigentlich immer,
unbeschreiblich schlecht war und begann, diejenigen dunklen Ecken der Seele zu
stimulieren, die von einem weniger ausgeglichenem Gemüt vermutlich nur bedingt
kontrolliert werden können.
Ich könnte mich an dieser Stelle umfangreich über
Kochsendungen und Verkaufsfernsehen auslassen, die gefühlte 75 Prozent der
gesendeten Inhalte repräsentieren. Auch Sendungen, die hausfräulichen
Konsumrausch durch Wettbewerb anstacheln oder Talkshows, die ein Pöbelforum für
Mehrfachabhängige bieten wollen, wären zweifellos ein tolles Thema. Ich erspare
Ihnen und mir jedoch dieses Gemetzel vorerst, zumal ein anderer Typus von
TV-Sendungen interessante und zugleich alarmierende Fragen aufwirft. Es handelt
sich um jene „Dokusoap“ genannten Beiträge, die Episoden aus dem Berufsalltag
diverser deutscher Ordnungshüter zum Besten geben.
Auf den ersten Blick ist das nichts Neues. Seit Beginn der
schriftlichen Historie gibt es solche Berichte, die sich schließlich zu dem
entwickelten, was wir heute „Krimi“ nennen. Neu ist allerdings, dass innerhalb
einer Sendung über eine ganze Bandbreite verschiedener Berufe erzählt wird. Vom
Polizisten über den Mitarbeiter des Ordnungsamtes bis hin zur Steuerfahnderin
ist alles vertreten. Warum dieses neue Format? Warum heute?
Um diese Fragen zu beantworten, halte ich es für notwendig,
kurz die Probleme und Aufgaben der Ordnungsorgane zu umreißen.
Ob Dorf, Stadt oder Staat, jedes Gemeinwesen braucht tapfere
Männer und Frauen, die einerseits die Schwachen gegen die Übergriffe der
Starken verteidigen und die Regeln durchsetzen, und andererseits Geld für das
öffentliche Säckel eintreiben, so dass sinnvolle Projekte, wie etwa
Stadtflughäfen, unterirdische Bahnhöfe oder Philharmonien finanziert werden
können. In der Aufteilung dieser beiden Aufgabenbereiche liegt nun die wahre
Kunst und Weisheit der Innenpolitik. Wie entscheidend diese für die
Identifikation der Bürger mit ihrem Gemeinwesen ist, zeigt ein negatives
historisches Beispiel: Im mittelalterlichen Nottingham gab es einst einen
Leiter des Ordnungsamtes (engl. Sheriff), dessen PR-Berater es nicht gelang,
das Übergewicht des Geldeintreibens durch Imagekampagnen auszugleichen.
Entsprechend breiteten sich – ausgehend von einem sozialen Brennpunkt namens
Sherwood Forrest- aggressive Ausschreitungen aus, die die Zerstörung
öffentlichen Eigentums, Körperverletzungen und sogar zahlreiche Todesfälle mit
sich brachten. Ein Präzendenzfall, von dem Generationen von Politikern gelernt
haben. Werden die regulären Polizeikräfte dazu eingesetzt, die Weiler derer
Leibeigener anzuzünden, die ihre Steuerschuld nicht aufbringen können, oder
sich im Unterholz zu verstecken, um zu schnelle Fahrzeuge zu fotografieren,
statt sich mit marodierenden Wikingern, Rockern oder rumänischen Einbrechern
anzulegen, dann sind ungewollte Nebeneffekte und ein schlechter Ruf zu
erwarten. Wohlhabende Bürger werden dann etwa damit beginnen, eigene
Sicherheitstruppen zu rekrutieren. Potentielle Kandidaten für solche Aufgaben
sind – aufgrund des nötigen Testosteron-Gehirn-Gleichgewichts – die Mitglieder
eben der Gruppen, die von der Polizei beobachtet werden sollten. Es ist zudem keine
Übertreibung zu behaupten, dass die Politikverdrossenheit der Bürger nicht
wirklich weniger wird, wenn beherzte Berufszeuginnen mit blonden Strähnchen und
goldenen Schnörkelbrillen durch die Innenstädte streifen und Falschparker
verpetzen.
Doch – und damit komme ich zurück zum Thema – unerwartete
Hilfe naht. Nämlich in Gestalt der privaten Fernsehsender. Dort hat man
erkannt, wie man zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt:
Auf der einen Seite werden die Vertreter der gewalttätigen
Unterschicht ruhiggestellt, indem ihnen freundliche und sympathische
Ordnungshüter als Identifikationsfiguren angeboten werden. Ein Schutz-Programm
für professionelle Zeugen. Was für ein heldenhafter Einsatz für die
gesellschaftliche Ordnung! Ich kann mir vorstellen, dass allein das Casting –
eine fast aussichtslose Herausforderung – Monate gedauert haben muss.
Auf der anderen Seite wird gleichzeitig die Mittelschicht
bedient, indem eine aktionsgeladene Realsatire
dargeboten wird. Wer allerdings Wert auf ausformulierte Dialoge legt und
ein kritisches und mündiges Bürgertum höher schätzt als staatlich geförderte
Gängelung durch unterqualifizierte Aufpasser, der wird entweder abschalten oder
weiterzappen bis jener berüchtigte glasige Blick einsetzt, der den anfangs
erwähnten Zustand einläutet.
Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Fernsehabend.
Philipp Heine
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen