Stets kritisch

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Sonntag, 1. Dezember 2013

Verordnung und Toleranz



Verordnung und Toleranz - Von Philipp Heine

Es ist verhältnismäßig leicht, einen Deutschen zu fangen und zu einem langen qualvollen Tod zu verurteilen: Man muss ihn nur zwischen einige Ampeln locken, die alle dauerhaft auf Rot geschaltet sind. Nach einer Woche wird man seine verhungerten Überreste bergen können. Weshalb ist das so? 

Die deutsche Seele ist erfüllt von Angst (ein Wort, das etwa die Angloamerikaner von uns als Lehnwort übernommen haben). Angst vor dem Verlust an Sicherheit und Gewohnheit. Neues, Fremdes und Risikobehaftetes gilt es abzuwehren, egal zu welchem Risiko. Entsprechend haben drei Institutionen einen festen Platz im teutonischen Kulturgut: Obrigkeit, Gesetz und Bunker. Speerspitze und Wächter dieser Angst, die sich im Positiven durch Sekundärtugenden, wie etwa Pünktlichkeit, Gehorsam und Genauigkeit äußert, sind die Beamten. Sie stellen sicher, dass Sicherheit und Ordnung Triebfeder des Lebens bleiben, nicht etwa Lebensfreude, Freiheit oder Neugier. Deutschland könnte nicht so etwas Unvernünftiges wie einen Ferrari konzipieren. Der einzige als solcher erkennbare deutsche Sportwagen war eine Folge nationalsozialistischen Größenwahns und hat sich seit dieser Zeit kaum verändert. Wer Dinge plant, die „cool“ oder auf Vergnügung ausgerichtet sind, wird sofort mit zwei Argumenten gestellt: 

    1.  Das Mutterargument: Kinder könnten zu Schaden kommen oder auf falsche Gedanken gebracht werden. 

    2.  Das Bildungsbürgerargument: So etwas (wie laute Motoren und Negermusik) ist proletenhaft und nicht der geistigen Elite Deutschlands würdig.
 
Nachdem Deutschland nur 12 Jahre gegeben waren, in denen die tiefsten seelischen Sehnsüchte ausgelebt werden konnten, kamen der Ami, der Tommy, der Ivan und der Franzose und machten alles kaputt. Doch sie gaben uns schlauerweise eine neue Obrigkeit. Und so ist (West-) Deutschland das einzige Land, das binnen kürzester Zeit eine humanistische Ethik übernahm. Amerika wundert sich immer wieder von neuem über die vergeblichen Versuche, solche Ergebnisse auch in Ländern wie Irak, Vietnam oder Afghanistan zu erzielen. Aber wie tief verwurzelt sind humanistische Ideale, wie etwa die Toleranz, in Deutschland und mit welchen Argumenten werden die Deutschen von ihnen überzeugt?
 
Sofort erscheinen zahlreiche Erinnerungen vor dem geistigen Auge: Ein schwarzafrikanischer Mitbürger durchquert den Raum, als sich Karl-Heinz zu mir herüberneigt und jovial raunt „Das ist aber ein schöner, und so gepflegt!“. Oder die resolute Dame mit Goldrandbrille und ergrauter Kurzhaarfrisur, die beim Anblick eines bärtigen Türken erbleicht und panisch nach einem zurückgelassenen Koffer Ausschau hält. Oder das weinende Jesuskind, das ansehen muss, wie zwei Männer sich küssen. Sehr interessant ist auch der Effekt, den Anglizismen im Gespräch mit Vertretern des konservativen Bürgertums haben können: Es folgt oft eine Tirade gegrummelter Verfluchungen, von denen nur das Wort „Multikulti“ deutlich vernehmbar ist.
 
All diese Begegnungen verstärken die Erkenntnis, dass Deutschland nicht wirklich stolz darauf ist, ein Schmelztiegel der Kulturen zu sein. Das Fremde wird nicht wirklich als Möglichkeit der Horizonterweiterung willkommen geheißen. Vielmehr scheint es Gehorsam der Obrigkeit und dem Gesetz gegenüber zu sein, die Toleranz zum zentralen Wert und zur Zierde macht. Wer mit weihevollem Brustton von sich behaupten kann, ein sehr toleranter Mensch in christlicher und preußischer Tradition zu sein, dem verzeiht man auch das Komma-Aber,  welches meistens folgt. Der Musterbürger hat seine Schuldigkeit getan und darf zurück an den Stammtisch.
 
Ich möchte nicht als undankbarer Nestbeschmutzer erscheinen: Seit der Gründung der Bundesrepublik haben wir eine lange Periode des Friedens, des Wohlstands und der nachhaltigen Rechtsstaatlichkeit erleben dürfen, was in den Augen von unzähligen Menschen ein ferner Wunschtraum sein dürfte. Ich fürchte nur, dass auch TV-Dokumentationen über die NS-Zeit im 15-Minuten-Takt keine Wirkung zeigen, wenn sich eines Tages eine völlig neuartige Obrigkeit anschickt, irgendeine Minderheit für politisch unkorrekt zu erklären. Deutscher Gehorsam, deutsche Ordnungsliebe und deutsche Effizienz werden die Minderheit– wahrscheinlich nur unter Protest – einer Lösung zuführen. Die Obrigkeit muss nur gerissen genug sein, auf braune Uniformen und Hakenkreuzfahnen zu verzichten. Wir können dankbar sein, dass die Fanatiker bislang geistig zu eingeschränkt waren, dies zu erkennen.
 
Die größte Hoffnung für dauerhaften Frieden in Deutschland besteht nach meiner Überzeugung in der Trägheit und dem Stumpfsinn der Spaßgesellschaft. Videospiele werden unsere Rettung sein.
 
Ich wünsche Ihnen einen geordneten und effizienten Tag!

Philipp Heine

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