Im Netz der
Verschwörungen – Von Philipp Heine
In einer normalen Familie, in einer normalen Stadt lebte
einst ein normaler Junge. Er hieß Kjell-Kevin und hatte erfolgreich sein Abitur
abgeschlossen. In der Schule hatte er gelernt, dass es Binomische Formeln gibt,
mit denen man irgendetwas berechnen kann, ebenfalls dass Mitose und Meiose etwas mit
Sex zu tun haben. Es war auch von einem Shakesbeer die Rede. Außerdem hatte er
sich eingeprägt, dass Ramses, Nero und Hitler die Vorgänger von Angela Merkel
waren. In den Pausen hatte er sich mit Hilfe von Smartphone und Facebook auch
Lesen und Schreiben beigebracht. Nun war seine Zeit gekommen: Die Welt lag ihm
zu Füßen und wartete nur auf all die Neuerungen, die er ihr bescheren würde. Er
entschloss sich also, an der Universität Meppen Sozial- und Ökoesoterik zu
studieren.
Auch wenn er mit all diesen Fremdwörtern, die nun auf ihn
einregneten, nicht viel anfangen konnte, so begriff er doch bald, dass in
dieser Welt geheimnisvolle Mächte am Werke waren und dass nicht alles so ist,
wie es auf den ersten Blick erscheint. Bereits seine Eltern, von denen es
heißt, dass sie damals mit Blumen im langen Haar und nackt gegen das
Establishment kämpften, hatten gesagt, dass das Wichtigste sei, alles zu
hinterfragen.
Kjell-Kevin hatte immer Zweifel am Sinn antiker Medien, wie
etwa von Büchern oder Zeitungen, gehabt. Nun stellte er zu seiner Beruhigung
fest, dass diese nur dazu dienen, die einfachen Bürger zu indoktrinieren und
mit falschen Informationen gefügig zu halten. Schemenhaft begann ein Bild von
der finsteren Realität und zugleich von seiner Mission zu entstehen.
Da er nur von durchschnittlicher Erscheinung und Intelligenz
war, musste Kjell-Kevin erkennen, dass sein einziger Weg zum weiblichen Schoße
auf Glauben, Charisma und öffentlich vorgetragener Überzeugung beruhte. Er war
berufen, den Kampf gegen das Böse aufzunehmen und Lara-Chantall aus dem Seminar
über maoistisches Häkeln tief zu beeindrucken.
Nach und nach lichtete sich der Schleier, und mit Entsetzen
verstand er das Ausmaß all der Verschwörungen, die die Welt wie ein Spinnennetz
umschlossen. In Amerika hatten sich, verborgen in einem finsteren Gewölbe der
Yale-University, Politiker, kapitalistische Wirtschaftsbosse, Freimaurer,
Illuminaten, Juden und Faschisten zusammengerottet, um – begleitet von
schrillem Lachen – ihr Geld und ihre Macht durch den Handel mit Öl, Waffen und
Plutonium zu mehren.
Sie gaukelten der Welt vor, dass man auf dem Mond gelandet
sei, dass der 11. September von Islamisten und nicht von Beauftragten der
Regierung ausgelöst wurde und dass die Russen die Eroberung der Ukraine geplant
hätten. Sie gingen sogar soweit zu behaupten, dass es niemals Kontakt zu
Außerirdischen gegeben hätte.
Natürlich dementierten und widerlegten Wissenschaftler und
Politiker alle Vorwürfe. Dies war aber nur der Beweis dafür, dass auch Presse
und Wissenschaft zu dem perfiden Netzwerk der geheimen Oberen gehörten. Kjell-Kevin
stand einsam einem unermesslichen Gegner gegenüber. Er traf nur auf eine kleine
Schar von Mitstreitern, die er etwa in Freikirchen und auf Kundgebungen der Piraten
getroffen hatte. Auch sie hatten klare Beweise für das dunkle Imperium im
Internet gefunden. Mittlerweile war es ihm auch gelungen, Lara-Chantall zu
zeigen, wo sich bei ihm Mitose und Meiose abspielten. Es wurden konspirative
Treffen abgehalten, auf denen man in Online-Rollenspielen den Ernstfall probte.
Die Wände wurden mit Aluminiumfolie und Eierkartons gegen das Ausspähen durch
die Geheimdienste abgeschirmt und die Rechner verschlüsselt. Langsam wuchs die
Gruppe der Gefährten.
Es war logisch und folgerichtig, dass diejenigen, die in den
infiltrierten Medien als Bedrohung dargestellt werden, potentielle
Hoffnungsträger und Verbündete sein konnten. Natürlich wurden in Moskau,
Pjöngjang und Islamabad auch Fehler gemacht, doch immerhin sagten die dortigen
Potentaten ehrlich und offen ihre Meinung und isolierten sich von den
Verschwörern des Westens. Sie bewiesen auch, dass sie gegenüber dem alten und
korrupten System hinter seiner Fassade von Demokratie und Menschenliebe durch
ihre uneingeschränkte Macht und Führungsstärke überlegen waren.
Kjell-Kevin war begeistert: Mit Frisuren, Piercings, lauter
Musik oder hässlichen Klamotten war es ihm nicht gelungen, seine Eltern oder
irgendwelche anderen Menschen zu schockieren oder zum Überdenken der
althergebrachten Werte zu bewegen. Das Schwenken der Flagge von Nordkorea
funktionierte. Er hatte den Spagat zwischen Revolution und moralischem Handeln
geschafft. Er war zum Eremiten-Krieger geworden und hatte das Licht gesehen.
Hinter einer Anonymous-Maske verborgen demonstrierte er auf Kundgebungen
und betätigte sich als Pfadfinder und
Prediger im Dschungel des Internets. Ein wahrer Held, der es verdient hat, auf
das Zölibat zu verzichten.
Wenn man heute vorsichtig und ganz leise in Internetforen
blickt und lauscht, dann können wir Kjell-Kevin dort finden, auch wenn er sich
vielleicht fackUnsa69 nennt.
Ich wünsche uns allen, dass es Kjell-Kevin nicht gelingt, eine
scharfe Waffe in die Hände zu bekommen.
Philipp Heine