Stets kritisch

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Dienstag, 10. Juni 2014

Im Netz der Verschwörungen

Im Netz der Verschwörungen – Von Philipp Heine


In einer normalen Familie, in einer normalen Stadt lebte einst ein normaler Junge. Er hieß Kjell-Kevin und hatte erfolgreich sein Abitur abgeschlossen. In der Schule hatte er gelernt, dass es Binomische Formeln gibt, mit denen man irgendetwas berechnen kann, ebenfalls dass Mitose und Meiose etwas mit Sex zu tun haben. Es war auch von einem Shakesbeer die Rede. Außerdem hatte er sich eingeprägt, dass Ramses, Nero und Hitler die Vorgänger von Angela Merkel waren. In den Pausen hatte er sich mit Hilfe von Smartphone und Facebook auch Lesen und Schreiben beigebracht. Nun war seine Zeit gekommen: Die Welt lag ihm zu Füßen und wartete nur auf all die Neuerungen, die er ihr bescheren würde. Er entschloss sich also, an der Universität Meppen Sozial- und Ökoesoterik zu studieren.

Auch wenn er mit all diesen Fremdwörtern, die nun auf ihn einregneten, nicht viel anfangen konnte, so begriff er doch bald, dass in dieser Welt geheimnisvolle Mächte am Werke waren und dass nicht alles so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Bereits seine Eltern, von denen es heißt, dass sie damals mit Blumen im langen Haar und nackt gegen das Establishment kämpften, hatten gesagt, dass das Wichtigste sei, alles zu hinterfragen.

Kjell-Kevin hatte immer Zweifel am Sinn antiker Medien, wie etwa von Büchern oder Zeitungen, gehabt. Nun stellte er zu seiner Beruhigung fest, dass diese nur dazu dienen, die einfachen Bürger zu indoktrinieren und mit falschen Informationen gefügig zu halten. Schemenhaft begann ein Bild von der finsteren Realität und zugleich von seiner Mission zu entstehen.

Da er nur von durchschnittlicher Erscheinung und Intelligenz war, musste Kjell-Kevin erkennen, dass sein einziger Weg zum weiblichen Schoße auf Glauben, Charisma und öffentlich vorgetragener Überzeugung beruhte. Er war berufen, den Kampf gegen das Böse aufzunehmen und Lara-Chantall aus dem Seminar über maoistisches Häkeln tief zu beeindrucken.

Nach und nach lichtete sich der Schleier, und mit Entsetzen verstand er das Ausmaß all der Verschwörungen, die die Welt wie ein Spinnennetz umschlossen. In Amerika hatten sich, verborgen in einem finsteren Gewölbe der Yale-University, Politiker, kapitalistische Wirtschaftsbosse, Freimaurer, Illuminaten, Juden und Faschisten zusammengerottet, um – begleitet von schrillem Lachen – ihr Geld und ihre Macht durch den Handel mit Öl, Waffen und Plutonium zu mehren.

Sie gaukelten der Welt vor, dass man auf dem Mond gelandet sei, dass der 11. September von Islamisten und nicht von Beauftragten der Regierung ausgelöst wurde und dass die Russen die Eroberung der Ukraine geplant hätten. Sie gingen sogar soweit zu behaupten, dass es niemals Kontakt zu Außerirdischen gegeben hätte.

Natürlich dementierten und widerlegten Wissenschaftler und Politiker alle Vorwürfe. Dies war aber nur der Beweis dafür, dass auch Presse und Wissenschaft zu dem perfiden Netzwerk der geheimen Oberen gehörten. Kjell-Kevin stand einsam einem unermesslichen Gegner gegenüber. Er traf nur auf eine kleine Schar von Mitstreitern, die er etwa in Freikirchen und auf Kundgebungen der Piraten getroffen hatte. Auch sie hatten klare Beweise für das dunkle Imperium im Internet gefunden. Mittlerweile war es ihm auch gelungen, Lara-Chantall zu zeigen, wo sich bei ihm Mitose und Meiose abspielten. Es wurden konspirative Treffen abgehalten, auf denen man in Online-Rollenspielen den Ernstfall probte. Die Wände wurden mit Aluminiumfolie und Eierkartons gegen das Ausspähen durch die Geheimdienste abgeschirmt und die Rechner verschlüsselt. Langsam wuchs die Gruppe der Gefährten.

Es war logisch und folgerichtig, dass diejenigen, die in den infiltrierten Medien als Bedrohung dargestellt werden, potentielle Hoffnungsträger und Verbündete sein konnten. Natürlich wurden in Moskau, Pjöngjang und Islamabad auch Fehler gemacht, doch immerhin sagten die dortigen Potentaten ehrlich und offen ihre Meinung und isolierten sich von den Verschwörern des Westens. Sie bewiesen auch, dass sie gegenüber dem alten und korrupten System hinter seiner Fassade von Demokratie und Menschenliebe durch ihre uneingeschränkte Macht und Führungsstärke  überlegen waren.

Kjell-Kevin war begeistert: Mit Frisuren, Piercings, lauter Musik oder hässlichen Klamotten war es ihm nicht gelungen, seine Eltern oder irgendwelche anderen Menschen zu schockieren oder zum Überdenken der althergebrachten Werte zu bewegen. Das Schwenken der Flagge von Nordkorea funktionierte. Er hatte den Spagat zwischen Revolution und moralischem Handeln geschafft. Er war zum Eremiten-Krieger geworden und hatte das Licht gesehen. Hinter einer Anonymous-Maske verborgen demonstrierte er auf Kundgebungen und  betätigte sich als Pfadfinder und Prediger im Dschungel des Internets. Ein wahrer Held, der es verdient hat, auf das Zölibat zu verzichten.

Wenn man heute vorsichtig und ganz leise in Internetforen blickt und lauscht, dann können wir Kjell-Kevin dort finden, auch wenn er sich vielleicht fackUnsa69 nennt.


Ich wünsche uns allen, dass es Kjell-Kevin nicht gelingt, eine scharfe Waffe in die Hände zu bekommen.



Philipp Heine

Sonntag, 18. Mai 2014

Ökumene der Geschmacklosigkeit

Ökumene der Geschmacklosigkeit - Von Philipp Heine

Ich möchte mich an dieser Stelle nicht auf eine Diskussion über inhaltliche Wahrheit und Sinn der christlichen Religion, oder über Vorzüge und Nachteile einzelner Konfessionen einlassen. Was mich aber seit vielen Jahren zutiefst verwirrt, ist die Ästhetik, mit der sich die moderne Kirche, egal ob katholisch oder evangelisch, der erstaunten und teilweise belustigten Öffentlichkeit präsentiert.

Gelegentlich kam es in meinem Leben vor, dass ich ein Gemeindehaus, ein Kolpinghaus, eine seit den 70er Jahren entstandene Kirche oder die Wohnung einer Theologiestudentin betreten habe. Stets bietet sich mir ein verblüffend ähnlicher Anblick: Beton und Backstein treffen auf Kiefernholzmöbel und den Duft von Kamillentee. Ein obligatorischer und in allen erdenklichen Formen präsenter Bestandteil der Dekoration ist der Regenbogen, der zwar die Versöhnung von Gott und Mensch symbolisiert, aber bei Überdosierung durchaus albern wirken kann. Er schmückt das Gros all jener Gesangs- und Kindergottesdienstvorbereitungsbücher, die sich in den Regalen neben Bastelbüchern, Bibelkommentaren und landeskirchlichen Warnschriften gegen die Wollust und Abwegigkeit der heutigen Welt stapeln. Der Regenbogen ist auch auf dem von afrikanischen Kindern gemalten Bild zu finden, das natürlich nicht als Trophäe für die erfolgreiche humanitäre Mission im Land der Wilden fehlen darf.

Zwei deutsche Künstler des 20. Jahrhunderts haben nachhaltigen Einfluss auf weitere Schmuckstücke christlicher Inneneinrichtung genommen: Käthe Kollwitz und Ernst Barlach. Unzählige Kreuze und Figürchen aus Holz oder Bronze, Holzschnitte oder Radierungen laden dazu ein, die Seele mit frommen Mitleid und gläubig-pazifistischem Sendungsbedürfnis anzufüllen. Das eskalierende Leid kriegstraumatisierter Kindergesichter und die aufopfernde Pein Jesu treffen auf den Trost leise weinender Engelchen. Ich vermute, dass es den Kirchen und ihren Schäfchen zu verdanken ist, dass in unseren Tagen überhaupt noch Bronze produziert wird.

Der ultimative Kultgegenstand moderner christlicher Ethik und nahezu ekstatischer Hingabe ist das Taizé-Kreuz. Aus einer kleinen französischen Gemeinde stammend, steht es für konfessionsübergreifende und gemeinschaftliche Frömmigkeit. Gelbe, Schwarze, Rote, Weiße glauben Hand in Hand die gleiche Sache.

Mit großer Akribie wird beachtet, dass fromme Biotope lediglich mit Naturprodukten ausstaffiert werden. Die einzigen Produkte, die nicht aus natürlichen Fasern und abbaubarem Material bestehen, sind der Fahrradhelm und die wasserdichte Satteltasche.

Während meines Studiums gehörte es zu den verbreiteten Gemeinschaftsspielen, in der Mensa den Studiengang diverser Studentinnen und Studenten anhand ihrer äußeren Erscheinung zu bestimmen. Juristen und angehende Religionslehrerinnen zählten zu den mit Abstand leichtesten Fällen. Letztere zeigten sich mit großer Zuverlässigkeit mit folgenden Attributen: Dunkelblaue Strumpfhosen, die es mehr oder weniger schafften, den Blick auf die unrasierten Beine zu kaschieren, selbstgehäkelte Ringelsöckchen, Faltenröcke, Blusen, kleine Lederrucksäcke mit obligatorischer Diddl-Maus, ovale Brillen mit Metallrand, Zahnklammern, selbstgebastelte Freundschaftsbänder  und – wenn es galt, eine gewisse Verwegenheit zu demonstrieren – ein Palästinensertuch. Grundsätzlich zeigten die Mädchen – nur selten gab es männliche Vertreter dieser Gattung, die sich aber äußerlich nur gering von den weiblichen unterschieden – eine ablehnende Haltung jeglicher Form von Kosmetikprodukten gegenüber, weshalb man stets der ungeschminkten und unrasierten Realität göttlicher Schöpfung ausgesetzt war. Regelmäßig trugen die Theologinnen ein Instrumentenköfferchen mit sich, das eine Trompete enthielt. Während die geschlechtliche Vermehrung des Normalbürgers nämlich auf Disko- oder Kneipenbesuchen basiert, so sind es bei den keuschen Menschen, die sich in Nachfolge Jesu Christi befinden, gern der Posaunenchor der Gemeinde, der Kirchentag oder das Jugendcamp, die die Größe der zukünftigen Herde des guten Hirten garantieren.

Zu der Merkwürdigkeit der Bekleidung kam der spezifische Habitus, der männliche und weibliche Theologen auszeichnete. Unabhängig von der Gelegenheit zeigten sie fast immer ein dienstbares und hilfsbereites Lächeln auf den Lippen, welches nicht unbedingt auf Humor oder wilde Lebensfreude zurückzuführen war. Es war ein Lächeln, das zeigte, dass man Teil eines geschlossenen Systems göttlicher Liebe und Wahrheit war, das unerschütterlich von den Einflüssen der garstigen Fleischlichkeit existiert.

Manchmal kommt es vor, dass eine Schar junger Menschen ohne Vorwarnung plötzlich eine Gitarre hervorholt und beginnt, mit glockenheller Stimme einen hebräischen oder afrikanischen Kanon zu trällern. In diesem Moment kann davon ausgegangen werden, dass moderne Jünger der Dreifaltigkeit so verzückt sind, wie es ihnen ihre Moralvorstellung erlaubt.

Ich habe festgestellt, dass Theologinnen zu den nettesten und freundlichsten Personen gehören, die mir jemals begegnet sind. Dennoch frage ich mich, ob mich die moderne christliche Ästhetik und ihre Repräsentanten zu dem Gedanken motivieren würden, mich ihnen anzuschließen, wenn ich das gleiche christliche Bekenntnis hätte. Ich fürchte, dass die Antwort ein klares Nein ist. Leere Kirchen lassen mich zudem denken, dass ich mit dieser Meinung nicht allein bin.

Ich wünsche den Kirchen, dass es ihnen gelingt, sich der normalen und realen Welt schrittweise zu öffnen. Sehr gern erfreue ich mich aber auch weiterhin an der bunten und seltsam grinsenden Exzentrik der frömmelnden Blaustrümpfe.

Philipp Heine

Donnerstag, 15. Mai 2014

Wie das Sammeln die Balz verdrängte

Wie das Sammeln die Balz verdrängte - Von Philipp Heine

Wie der possierliche Paradiesvogel mit seinen bunten Federn und lustigen Tänzen, so warben auch die Menschen einstmals um die Gunst potentieller Partner: Der Mann stählte seinen Körper, benetzte ihn mit Moschusdüften und schmückte sich mit Attributen, die von Macht, Vitalität und Wohlstand kündeten. Die Frau ihrerseits legte süße Düfte auf, gewandete sich mit schönen Kleidern, die einen Hauch von wohldosierter Erotik durchscheinen ließen und übte sich in der Verbreitung reizender Weiblichkeit. Bei geselligen Veranstaltungen trafen die Werbenden aufeinander und erprobten gegenseitig ihre Gewandtheit im Umgang mit Geist und Körper. War man sich einig, so übernahmen körperinterne Schmetterlinge das Ruder und das Leben in Zweisamkeit nahm seinen Lauf.

Schaut man sich heute um, so denkt man auf den ersten Blick, dass alles seiner üblichen Wege geht und nur äußere modische Feinheiten sich gewandelt haben. Doch auf den zweiten Blick sind merkwürdige Abwege erkennbar. Zwar bemühen sich beide Geschlechter um Attraktivität, doch scheint dies mehr und mehr aus Gründen der Selbstverwirklichung zu geschehen, als um dem anderen Geschlecht zu gefallen. Mit der durchaus berechtigten Erkenntnis der Damen, dass ihre traditionelle Rolle sie benachteiligt und in der Freiheit beschränkt, geht eine neue, tendenziell negative Sicht auf den Mann einher, die dramatische Auswirkungen auf das Werbeverhalten des homo sapiens sapiens nach sich zieht: Die einst erfolgreiche Zurschaustellung von pulsierender Männlichkeit wird heute mit einem Naserümpfen und demonstrativ leerem Blick quittiert. Männer, die ihre körperliche Fitness zeigen, Autos fahren, die tatsächlich sportlich und schön sind, und auf betont aufreizende Kleidung Wert legen, tragen das Stigma des Proleten oder Schnösels. Frauen, die den alten Techniken die Treue halten, müssen mit dem Ruf einer unemanzipierten Schlampe leben.

In Schach gehalten von medialer Beeinflussung und gesellschaftlicher Konvention bemühen sich die modernen Westeuropäer, ihre smarte politische Korrektheit zu untermalen, indem sie sich modische Neuheiten gefallen lassen, die genau das betonen, was in den letzten Jahrtausenden Inbegriff des Unschönen war: Die Vertreterinnen der Weiblichkeit tragen mitunter Kleider, die ihre enge Verwandtschaft zum Jutebeutel deutlich erkennen lassen, färben sich die Haare rot, was bis vor kurzer Zeit eindeutiges Anzeichen für Hexerei oder Chromosomenmutation war, und tätowieren sich wie neuzeitliche Seebären. Die Herren der Schöpfung tragen paläolithische Bartmoden, Nerdbrillen und fahren Fahrrad oder  Renault Clio (was eindeutig die schlechtere Wahl ist).

Trotz der Abkehr von der Absicht, dem anderen Geschlecht gefallen zu wollen, ist die Lust am Mode-Shoppen erstaunlicherweise ungebrochen. Mit geradezu erotischer Wollust strömen die Vertreter aller Geschlechter in die Modehäuser oder  lassen den Onlinehandel erblühen. Doch wem will man gefallen?

Die Werbung gibt uns Aufschluss: Seit Jahren wird die moderne Frau gebetsmühlenartig aufgefordert, so zu sein, wie sie ist, an sich zu denken und sich selbst zu verwirklichen. Seifenopern stellen der zeitgemäßen Dame ein obligatorisches Kränzchen von Freundinnen an die Seite, das sie berät, unterstützt, mit ihr konkurriert, streitet und sich am Ende wieder verträgt. Der Spiegel und das Kränzchen sind das Publikum der immerwährenden Modeschau. In abgemilderter Form spielt sich ähnliches auch bei den modernen Herren ab.

Eine Folge dieses kränzchenorientierten Konsums ist das Entstehen von Sammlungen. Kleiderschränke, die zunehmend begehbar sind, füllen sich mit genau einmal getragenen Kuriositäten, die sowohl teuer als auch -  in den meisten Fällen -  für das andere Geschlecht unfassbar hässlich sind. Diese Sammlungen, deren Wert nicht an der Werbewirksamkeit, sondern am Vorhandensein spezifischer Marken bemessen wird, entwickeln einen stetig zunehmenden Selbstzweck. Während Madame Handtaschen und Schuhe hortet, umgibt sich Monsieur mit Uhren, Hemden und Mangel an Selbstbewusstsein.

Resultat dieser Entwicklung ist die stetig wachsende Unfähigkeit, Beziehungen erfolgreich zu beginnen und dauerhaft am Leben zu erhalten. Trennungsraten und der wachsende Zulauf bei Dating-Seiten im Internet sprechen eine klare Sprache.

Doch es besteht Hoffnung: Der Irrsinn ist nicht genetisch. Der Wille zum Beeindrucken des anderen Geschlechts ist nur kulturell verdrängt und schlummert dicht unter der Oberfläche. Den Beweis für diese These treten all jene Machos an, die dank Ignoranz oder unbändigem Ego das Proletenimage auf sich nehmen und mit verblüffendem Erfolg Damen aller Art in Begattungsstarre versetzen.

Ich wünsche uns allen, dass das Bekenntnis zur wahren Schönheit wieder salonfähig wird, so dass es nicht mehr immer die Idioten sind, die die hübschesten Mädels im Sportwagen zum Ort des Geschehens chauffieren.


Philipp Heine

Sonntag, 27. April 2014

Von Solidarität, Nachsicht und Heroen

Von Solidarität, Nachsicht und Heroen - Von Philipp Heine


Einst waren mit der Lenkung eines Staates noch Glanz und Ruhm verbunden. Marmorne Statuen, Triumphbögen und Paläste sind die ewigen Zeugen dieser großen Zeiten und Menschen. Doch die Welt von heute ist sachlich und undankbar geworden. Außer Anzug, Krawatte und einer Sprechstunde im Bürgerbüro gibt es nichts, was auf die Verantwortung, auf die Mühen und auf das Leid eines modernen Volksvertreters hinweist. Schwer ist es geworden, Zeitloses und Geniales zu hinterlassen, das die Geschichtsbücher von morgen füllt. Steht man vor dem Kolosseum oder dem Tempel von Karnak, dann erkennt man, wie klein wir doch geworden sind. Doch es gibt noch Heroen, die es auf sich nehmen, der Nachwelt den Beweis unseres Könnens zu erbringen und zugleich Nützliches zu errichten. Nur mit List ist es ihnen möglich, die ewigen Neinsager zum Einlenken zu bringen: Indem man Kostenvoranschläge minimiert und an das Selbstwertgefühl des Bürgers appelliert, können auch heute Weltwunder geschaffen werden. Man denke an den unterirdischen Bahnhof von Stuttgart oder den leisesten Flughafen der Welt in Berlin oder die schwimmende Philharmonie in Hamburg. Natürlich muss man, wenn man Teil der architektonischen Weltgeschichte sein will, auch verzichten können. Schlaglöcher, Staus und bröckelige Schulen sind jedoch nur ein kleiner Preis, um in der Liga von Nero oder Ramses II. mitspielen zu können. Doch Weitsicht und Ratschluss der Parlamentarier sind groß:

Selbst das kleinste Schlagloch raubt ihnen den nächtlichen Schlaf. So ist es nur folgerichtig, den Bürger, der für sein Erspartes sowieso keine Zinsen bekommt und der sich selbst dann einen Flachbildfernseher und Pay-TV leisten kann, wenn er Hartz IV bezieht, um seine mehr als gerechtfertigte Solidarität zu ersuchen. Oder wollen die Menschen gar den Beweis antreten, dass sie unsolidarisch, egoistisch und nicht am Erblühen unserer Nation interessiert sind?

Sind die Menschen so kleinlich und verbohrt, dass sie unabhängige Prüfungskommissionen fordern, die Großprojekte auf technische und finanzielle Machbarkeit prüfen, bevor sie verabschiedet werden? Ist es nicht auch für sie einleuchtend, ja alternativlos, die unglaubliche Kompetenz, Willensstärke und Verantwortung der Politiker anzuerkennen und mit einem angemessenen Salär zu honorieren, das bis vor Kurzem noch einer Beleidigung glich?

Der Pöbel ist immer undankbar, egal, ob er mehr oder weniger Steuern an den Fiskus zu entrichten hat. Die Kinder und Kindeskinder werden die Leistungen der Altvorderen umso mehr zu schätzen wissen, wenn sie mit großen Augen und offenen Mündern durch Stuttgart 21 schreiten und staunend fragen „Papa, das hast alles Du gemacht?“.

Wie soll man der Welt zeigen, dass Marktwirtschaft, Demokratie und Aufklärung sich nicht nur lohnen, sondern sogar überlegen sind, wenn die Diktatoren und Unterdrücker in Burgen und Palästen residieren, und sich der deutsche Volksvertreter morgens im Fiat 500 zu seinem Kleinbüro in einem muffigen Altbau aufmachen muss?

Natürlich kann es vorkommen, dass, wo gehobelt wird, auch Späne fallen. Nicht jedes Großprojekt entsteht reibungslos. Doch auch Rom wurde nicht an einem Tag erbaut. Wie viele Milliardenprojekte entstehen tagtäglich, ohne es in die Schlagzeilen zu schaffen. Natürlich werden auch Fehler gemacht. Auch ein großer Mensch ist letztendlich nur ein Mensch. Wenn man Neues und Innovatives schaffen will, sind Fehler vorprogrammiert. Man braucht Fehler geradezu, um aus ihnen zu lernen. Um ein aufgeklärter, solidarischer und humanistischer Mensch zu sein, bedarf es auch der Tugend der Nachsicht und der Verzeihung.


Jeder vernünftige Mensch muss auch erkennen, dass durch staatliche Bauprojekte nachhaltige Arbeitsplätze geschaffen werden: Über Jahre werden deutsche Ingenieure, internationale Leiharbeiter und Subunternehmer und zahllose Mitarbeiter von TÜV und Mängelbeseitigungsfirmen in Lohn und Brot gehalten.

Mein abschließender Appell lautet also: Seien Sie den Vertretern der politischen Klasse gegenüber solidarisch und gehen Sie mit ihnen so mitfühlend und nachsichtig um, wie das Finanzamt mit Ihnen!

Ich wünsche Ihnen, dass Sie erkennen, Teil einer großen

Geschichte zu sein!


Philipp Heine

Freitag, 25. April 2014

Burgen, Bierflaschen und Blasmusik



Burgen, Bierflaschen und Blasmusik - Von Philipp Heine

Seit der Mensch seine Erlebnisse und Bräuche aufzeichnet, hat es Bevölkerungsgruppen gegeben, die es vorgezogen hätten, in der Vergangenheit zu leben. Im alten Rom gab man sich gern ägyptisch und ließ sich in die Mysterien der Isis einweihen. In der Renaissance wollte man wie die Römer sein. Die Christen strebten teilweise danach, wieder in den Zustand des alten Israel zu gelangen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts lösen sich in schneller Folge die Moden ab, die die Flucht in eine jeweils andere historische Epoche bevorzugen. Stilbrüche zugunsten des zeitgenössischen Geschmacks und der Bequemlichkeit wurden dabei selten als störend wahrgenommen. Dieser menschliche Spleen ist nicht verwunderlich. Die Vergangenheit hat zu allen Zeiten eine Faszination ausgelöst, da sie geheimnisvoll, gefährlich, wollüstig und glamourös erscheint. Damals waren Dinge möglich, die im tristen Alltag von heute unmöglich sind. Besonders während und nach Kriegen lud die Historie zum mehr oder weniger gebildeten Eskapismus ein. Das Mittelalter ist wohl das Zeitalter, das seit langer Zeit die meisten Menschen der Moderne in seinen Bann zieht. Seit dem Bau von Neuschwanstein und der um Jahrhunderte verzögerten Fertigstellung des Doms zu Köln gab es unzählige Variationen dieses Themas. Ich möchte mich im Folgenden einiger Juwelen der heutigen Vergangenheitsverehrung annehmen.

Der Auslöser zu dieser Fragestellung ist zugleich die Keimzelle einer Vielzahl guter Ideen und Innovationen: Die Bierflasche. Wie oft saß man vom Gerstensaft angeregt und in fröhlicher Runde da und blickte mit fast liebevollem Auge auf den treuen Begleiter aus Glas. Und nach kurzem Sinnieren fragte man sich, welcher Spießer im Delirium dieses Etikett entworfen haben könnte. Mit nur extrem seltenen Ausnahmen finden sich auf den Behältern des flüssigen Brotes die gleichen Dekorationen: Wappen, Gildeabzeichen, altdeutsche Schrift, Landsknechte und natürlich fröhlich übergewichtige Mönche. Dennoch ist es unmöglich sich vorzustellen, dass Ritter Kunibert oder Bruder Anselm mit einer Kiste Warsteiner ins Refektorium traten, um die Zeit zwischen Komplet und Prim mit Frohsinn zu überbrücken. Viel eher passt die Bierflasche zum Interieur gutbürgerlicher Gaststuben. Hier finden sich mannigfaltige Reliquien des besäuselten Historismus: Humpen aus blau-weißem Steingut, Zinnteller, Holzbalken, Butzenglasfenster und zinnenbekrönte Lampen im Kupferton. Gelegentlich hängt auch an der Wand ein hölzernes Schild mit einem frivolen Sinnspruch Martin Luthers, um den traditionsbewussten Alkoholiker geistreich zu belustigen. Schon die Namen solcher Kneipen geben oft Aufschluss über das Bekenntnis zum Zeitalter vor der Aufklärung: „Bergklause“, „Klosterkeller“ oder „Zorbas zur altdeutschen Eiche“. Meist wird das Altertümliche durch einen geschickt eingesetzten Kontrapunkt unterstrichen, wie etwa einen laut dudelnden und blinkenden Spielautomaten oder Wimpel der Altherrenmannschaft des örtlichen Fußballvereins. Gern wird auch die mittelalterliche mit der volkstümlichen Tradition vermischt. Besonders das bayrische Kulturgut findet sich auf vielen Speisekarten, in der Bekleidung der Bedienungen und in Form der Hintergrundmusik.

Diese Entdeckung führt mich direkt zu der Erkenntnis, dass durch die Gruppe der heutigen Traditionsjünger in Deutschland ein tiefer Bruch geht, der zum guten Teil ein Generationenkonflikt ist. Auf der einen Seite gibt es jene, die die Zielgruppe besagter Gaststuben sind. Sie schätzen den heimatlich-vaterländischen Aspekt der alten Tradition, sind konservativ, zählen Blasmusik im Marschrhythmus und Volkslieder, die von sogenannten Musikanten dargeboten werden, zu den unverzichtbaren Elementen ordentlicher Gemütlichkeit und suchen nach Zuflucht vor multikultureller und digitaler Bedrohung. Auf der anderen Seite lebt eine Schar von Jugendlichen, der es nach einer Alternative zum geordneten und abenteuerfreien Alltag gelüstet. Statt Dirndl und Loden tragen sie lieber lederne Bundschuhe, Kettenhemden und Wämser. Sie werden gelockt von  Ritterspielen, Hexen, Gauklern, Met und Gothic-Musik. Auf Mittelaltermärkten und Festivals schlüpfen sie in andere Rollen, um unterdrückte Wünsche auszuleben und im extatischen Tanz zu vergessen, was das normale Leben eines Informatikstudenten ausmacht.

Begegnen sich Vertreter der beiden Gruppen auf der Straße, rümpfen beide die Nase und sehen die Verkörperung des Bösen vor sich. Dabei übersehen sie, dass sie viel mehr gemeinsam haben, als tatsächliche Gegensätze.

Besonders eins verbindet die Generationen und gesellschaftlichen Gruppen, auch wenn sie ihre Gegenwartsflucht unterschiedlich umsetzen: Die Liebe zum Bier und dem speckigen Design der zugehörigen Flaschen. Da viele Beziehungen nur dank des Konsums von Alkohol funktionieren, lässt sich also feststellen, dass Hoffnung für den Zusammenhalt der Gesellschaft mitsamt ihrer Subkulturen besteht.

Ich wünsche Ihnen stets einen bekömmlichen Ausflug in die bunte Welt der Vergangenheit!

Philipp Heine


Montag, 14. April 2014

Katzenmusik und Erklärbär



Katzenmusik und Erklärbär - Von Philipp Heine

Ich bin Ehemann und Hundebesitzer. Das bedeutet, dass ich – im Rahmen des gemeinschaftlichen Familienfernsehens – gehalten bin, ein gewisses Quantum an Tiersendungen anzuschauen.

Dieses Genre lässt sich grob in zwei Varianten aufteilen: Zum Ersten gibt es Sendungen, die den Intellekt ansprechen. Diese stellen Erziehungsmethoden für Haustiere, neue Erkenntnisse der Zoologie, Verhaltensforschung oder die Bedrohung bestimmter gefährdeter Arten vor. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Formate, die komplett darauf ausgerichtet sind, weibliche Urinstinkte anzusprechen. Hier werden niedliche Zootierchen gezeigt, wie sie sich putzen, bei der Mami saugen oder verspielt herumspringen. Oder es werden allerärmste Tierwaisen gezeigt, die dringend ein neues Heim benötigen. Welpen, Küken, große traurige Augen, Katzenbabies, die von einer Hündin abgeleckt werden, ein blindes Häslein oder rührend freche Frettchen bringen die Dame des Hauses in greifbare Nähe des Zustandes, in dem die Milch einschießt.

Das Männchen unterliegt zwar der gesellschaftlichen Verpflichtung, wenigstens ansatzweise Krieger und Jäger zu sein, dennoch muss ich zugeben: Auch ein Mann ist in der Lage, Niedlichkeit und lustige Tiere zu genießen. Aber es gibt eine fast unüberwindliche Hürde, die einen Mann entweder abschreckt, oder in einen rauschartigen Wahn versetzt, der verlangt, dass der teure Flatscreen mit einer XXL-Axt niedergestreckt wird und in Folge dessen mit leisem finalem Stöhnen aus den Lautsprechern blutet und schließlich seine kleine rechteckige Seele aushaucht. Bestandteile dieser Hürde sind einmal die musikalische Untermalung der genannten Sendungen und weiterhin die Gestaltung und Intonation der Sprachkommentare.
Diese möchte ich im Folgenden näher betrachten, um zukünftige Familiendramen, Amokläufe oder autoaggressives Verhalten bei Männern zu verhindern.

Um eine Tiersendung der zweiten Kategorie zu vertonen, hat der Regisseur drei Arten von Musik zur Auswahl: Dixieland-Jazz, afrikanische Folkloremusik oder assoziative Musik, die dank „Peter und der Wolf“ nicht ohne Holzbläserensembles und die Tuba auskommt. Vermutlich bilden Tiersendungen die einzige Einkommensmöglichkeit für die Vertreter dieser Musikrichtungen. (Nur die Jazzer können noch in Kabarettsendungen der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten unterkommen.) Es ist eine fast amüsante, aber jedenfalls surreale  Vorstellung, wie ein Oboist mit bunten Kleidern und Propellermütze vor einem Monitor sitzt und grübelt, ob der Nasenbär eher durch einen Triller, oder einen chromatischen Lauf dargestellt werden kann. Es stellt sich die Frage, welches Publikum außerhalb von Tiersendungen solche Musik hören würde. Nach längerem Nachdenken fallen mir nur Kindergartenkinder unter dem Einfluss von Ritalin ein.
Diese Feststellung führt mich direkt zu den Sprachkommentaren: Auch hier herrscht eine gewisse Kindergartenatmosphäre. Die Männer befleißigen sich einer Kunststimme, die man einübt, um einen märchenerzählenden Teddybären zu synchronisieren. Die Damen sprechen wie Erzieherinnen, die mit einer Gruppe von 15 Sechsjährigen im Morgenkreis sitzen und eine gaaanz tolle Geschichte von Hansi der Schermaus erzählen wollen. Man könnte sich aber auch in ein Gespräch von Muttis in der Krabbelgruppe versetzt fühlen. Mit fließenden Übergängen wird zwischen Kommunikation unter Erwachsenen und Babytalk hin- und hergeschaltet. 

Wir kommen zum Motiv der grausamen Tat: An welche Zielgruppe denken die Produzenten und Autoren besagter Tiersendungen? Der gesamte Habitus deutet darauf hin, dass an Vatis und Muttis gedacht wird, die „Familie & Co“ lesen, einen „Kevin on board“-Aufkleber auf dem Kombi haben und sicherstellen wollen, dass die Kurzen noch vor der Analphase wissen, was eine Lachhyäne ist. Auch Tiermamis gehören zum eingeplanten Publikum. Die welpenbedingte Hormonlage wird mit absoluter Sicherheit dafür sorgen, dass keine Frau sich an Musik und Kommentaren stört. Nicht in der Rechnung berücksichtigt wurden allerdings all jene Männer, die sich aufopfern, um ihrer Frau zu zeigen, dass sie an ihren Interessen Anteil nehmen. Mit glasigen Augen, zwischen Unglaube und Aggression schwankend, sitzen sie vor dem Fernseher und fragen sich, ob sie es persönlich nehmen sollen, wenn Medienmacher sie wie Kleinkinder behandeln.
Ich möchte diesen Beitrag also mit einem Gnadengesuch an die Verantwortlichen in Funk und Fernsehen schließen: Bitte, auch wenn das Zeitalter des Mannes Vergangenheit ist, lasst ihm einen Rest an Würde. Auch wenn er nicht so stolz und schön ist, wie ein spanischer Windhund.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie und Ihr Ehepartner die gleichen Fernsehsendungen mögen!

Philipp Heine

Sonntag, 13. April 2014

Ungerecht ist gemein!



Ungerecht ist gemein! - Von Philipp Heine

Als ich noch ein Kind war, gehörte zu meiner Persönlichkeit eine innere Stimme, die wie ein genetisch programmierter Ehrenkodex von mir verlangte, einen bestimmten Maßstab von Gerechtigkeit an meine Handlungen anzulegen. Die meisten anderen Kinder, mit denen ich zu tun hatte, gehorchten offenbar der gleichen Stimme, denn sie beschwerten sich jedes Mal lautstark, wenn dem anscheinend allgemeinen Ideal der Gerechtigkeit nicht entsprochen wurde. Diese Gerechtigkeitsvorstellung lässt sich am besten durch folgendes Bild skizzieren: 

Ein Kind holt aus der Küche eine Flasche Limonade und einige Gläser. Die Gläser werden nebeneinander auf dem Wohnzimmertisch aufgebaut. Mit kritischem Blick stehen alle vom Durst geplagten Halbwüchsigen um den Tisch herum. Noch näher rücken sie, als der Sprössling des Hauses mit dem Einschenken beginnt. Entdecken sie, dass ein Glas nicht die exakt gleiche Füllmenge, sondern mehr oder weniger Limonade enthält, wird lauter Protest hörbar, der nicht ohne die Begriffe „ungerecht“ und „gemein“ auskommt.

Nachdem ich Jahre später feststellen musste, dass diese Variante von Gerechtigkeit durchaus Schwächen hat, musste ich mein moralisches Empfinden etwas differenzieren. Etwa wenn zufällig ein sehr kleiner  tiefenentspannter Mann bei Raumtemperatur das gleiche Glas Wasser bekommen soll wie ein Hüne, der gerade in der Wüstensonne 500 Meter Schienen verlegt hat, dann wird die Rechtfertigung der Methode schwierig. Erstaunlicherweise gibt es erwachsene Menschen, die dennoch dem kindlichen Verteilschema treu geblieben sind. Man erkennt sie oft an der Vorliebe für rote Textilprodukte, den Klang von Schalmeien und Schiebermützen aus Leder.

Ist es falsch, jedem  die exakt gleiche Portion zuteilen zu wollen? Auf diese Weise wäre Gerechtigkeit extrem transparent und überprüfbar. Die eifrigen Verfechter in der politischen Landschaft setzen als gegeben voraus, dass die Durchsetzung von Gerechtigkeit zentrale Aufgabe des Staates und seiner Organe sei. Statt eines Dreikäsehochs soll also neben jedem Glas, in jeder Bank und an jeder Lohn- und Nahrungsausgabe ein freundlicher Herr mit Schlapphut, oder ein von ihm inoffiziell beauftragter Zivilist stehen, der über Maß und Ordnung wacht.
Da dieses Bild, besonders bei den älteren Bürgern, negative Assoziationen wecken könnte, müssen sich die Vorkämpfer gegen die Unterdrückung des kleinen Mannes mit Argumenten und Positionen schmücken, die jeden Kritiker automatisch zu einem Unmensch und menschlichen Raubtier degradieren. Eine dieser Positionen besteht im bedingungslosen Pazifismus. Für einen Kommunisten ist Pazifismus nahezu ein Geschenk des nicht existierenden Gottes. Studentinnen von Sozialwissenschaften bekommen bei der bloßen Erwähnung feuchte Augen, Gegner beginnen, die Bewegung für harmlose Spinner zu halten und werden weniger wachsam, Bündnisse mit westlichen Partnern, die auch auf Verteidigung beruhen, werden ausgehöhlt, so dass man auf eine ungemein praktische Isolation zusteuert, die das Salz in der Suppe jeder Diktatur des Proletariats ist.

Das Einzige, was noch zur moralischen Vollkommenheit fehlt, ist das wiederholte und öffentliche Bekenntnis, dass jede Idee, jeder Mensch und jedes Produkt, dass in den Vereinigten Staaten von Amerika entstanden ist umweltschädlich, ausbeuterisch, zu kalorienreich und geistig minderbemittelt sei.

Ein heutiger Student der Politik- und Sozialwissenschaften lernt angesichts dieser Tatsachen zwei wesentliche Fakten, wenn er das vierte Semester abgeschlossen hat: Wie man seinen Namen schreibt und wo man bei der Wahl sein Kreuz machen muss, um in Gleichheit und Gerechtigkeit, in blühenden Landschaften und rauschenden Wäldern und unter einfachen und naturnahen Menschen zu leben. Wie schön wäre es doch, wenn alle wieder bei Kerzenschein am Webstuhl oder Spinnrad sitzen dürfen, um rotes und grünes Tuchwerk herzustellen. Keine Angst mehr vor dem Klimawandel, kein Feinstaub und keine hektische Mobilität. Globalisierung und oberflächliche Vergnüglichkeiten von Übersee wären Albträume der Vergangenheit. In den Eiskästen lägen wieder Produkte aus der direkten Nachbarschaft, gerecht rationiert und zu wenig, um Fett anzusetzen. Die Kinder würden wieder mit Fackeln und Trommeln in der Natur spielen, statt Mützen verkehrt herum zu tragen und so zu tun, als kämen sie aus den Slums und Ghettos von Bielefeld oder Paderborn. Eine friedliche Welt, in der höchstens die Gefahr bestünde, dass die Russen kommen, doch das wäre immerhin moralisch vorteilhafter, als Sklave der amerikanischen Spaßgesellschaft zu sein. Mit einem Seufzen tropft bei diesen Gedanken eine Träne der Rührung in den Müsli.

Schade nur, dass das Gerechtigkeitsempfinden subjektiver Art ist. Das bedeutet, dass selbst in einer Welt, die auch nach den höchsten Ansprüchen der heutigen Zeit vollkommen ist, ein Großteil der Einwohner unzufrieden wäre und über die maßlose Ungerechtigkeit schimpfen würde.

Ich wünsche uns allen, dass es übereifrigen Gerechtigkeitsvertretern nicht gelingt, zwei gleichvollen Gläsern Freiheit und Wohlstand zu opfern. Das wäre gemein!

Philipp Heine