…und ein Engelchen für die Dame - Von Philipp Heine
Die moderne Frau ist weltoffen, kritisch, sachlich und
pragmatisch. Nur Relikte sind von den Tagen geblieben, als ein Frauenzimmer als
hysterisch galt, wenn es wagte, dem Patriarchen den Gehorsam zu verweigern.
Ohnmacht und Riechfläschchen gehören der Vergangenheit an, wie die
ausschließliche Zuordnung der Frau zu Kirche, Kind und Küche. Die Dame von
heute bekennt sich zu ihrer genetischen Befähigung zum Multitasking und managt
die berufliche Karriere und ihren ausgehandelten Anteil des Haushalts.
Manchmal stößt der männliche Betrachter jedoch erstaunt auf
kleine kitschige Anzeichen dafür, dass noch versandete Überbleibsel jenes
Harmonietriebes verblieben sind, der Frauen einen großäugigen feuchten Blick
abnötigt, wenn Familie, Freunde, Heimat und das Jenseits für einen Augenblick
in einem kuschligen Nest vereint sind.
Eins dieser Anzeichen ist das Engelchen. Diesem in Ostasien produzierten, fromm nach schräg oben blickenden, in zum Sternzeichen passendem Kristall vorrätigen und bereits für nur 12,99€ verfügbaren Archetyp der Weiblichkeit möchte ich mich heute zuwenden.
Eins dieser Anzeichen ist das Engelchen. Diesem in Ostasien produzierten, fromm nach schräg oben blickenden, in zum Sternzeichen passendem Kristall vorrätigen und bereits für nur 12,99€ verfügbaren Archetyp der Weiblichkeit möchte ich mich heute zuwenden.
Die reine christliche Lehre ist heute nur für wenige
weibliche Vertreter der neueren Generationen Deutschlands eine Antwort auf ihre
Fragen nach dem „Woher?“ oder „Wohin?“. Spirituelle Aktivität kann dieser Tage
unter dem Oberbegriff „Esoterik“ subsumiert werden. Aus allerlei Religionen,
Riten und Traditionen werden verschiedene Elemente entliehen und zu etwas
anscheinend Neuem modelliert. Dabei fällt auf, dass Männlein und Weiblein bei
der Auswahl ihrer neuesten Welterklärung unterschiedliche Schwerpunkte setzen:
Männer stehen auf dunkle Beschwörungen, Kutten, Mystik und Initiationen, während
die Damen nicht ohne Accessoires wie Kristalle, luftige Tücher, ätherische Öle,
gläserne Pyramiden oder eben Engel auskommen. Mehr oder weniger erfolgreich
versuchen sie den Spagat zwischen Individualität und Anpassung an Gemeinschaft
und Regeln. Besonders für Frauen sind letztere sehr wichtig, da sie dazu neigen,
Dinge korrekt und sorgfältig tun zu müssen. Ohne eine Gruppe oder Vorgaben,
könnte kein Gefühl der Erfüllung und des Erfolges erzielt werden. Man fragt
sich, mit welcher Selbstdisziplin es den Inhabern von Esoterikläden gelingt,
nicht kreischend loszulachen, wenn sie mit verstehendem Nicken das
Kristallengelchen und die Flasche mit Duftöl einwickeln.
Warum Engel?
In der Tradition der abrahamitischen Religionen waren Engel
Hofstaat, Leibwache und Botenservice Gottes. Aufgeteilt in eine strikte
Hierarchie, unsterblich und von gottähnlicher Reinheit waren sie alles andere
als niedlich und menschenfreundlich. Allein ihr Anblick konnte tödlich oder
mindestens gesundheitsabträglich sein. Mit flammendem Schwert fungierten sie
als Türsteher der himmlischen Exklave auf Erden, nämlich des Paradieses.
Michael und Gabriel sind Inbegriff der ultimativen Krieger, vor denen kein
Ungeheuer oder Heide bestehen konnte. Auch Luzifer (lateinisch für
„Lichtbringer“), der als Inkarnation des Teufels gilt, soll ein gefallener
Engel gewesen sein, dem sein Hochmut den Fall bedeutete. Bilder zeigen Engel als
androgyne Wesen, für die leibliche Vergnügen kein Thema sind. Vermutlich würden
ausladende Gemächte und Brüste auch für eine schlechte Aerodynamik sorgen und
den Flug durch lautes Hin- und Herschlappen stören.
Erst im Zeitalter des Barocks, als absolutistisch-hedonistische
Herrscher sich aus gutem Grund lieber niedliche Gottesboten vorstellten, die
eher freundlich und liberal mit fleischlichen Verfehlungen umgingen, wandelte
sich das Bild des Engels in die Richtung, die heute allgegenwärtig ist. Man
kann sagen, dass heutige Engelsdarstellungen nur geringe Ähnlichkeit mit den
Engeln der Bibel haben. Erstaunlich ist jedoch, wie exakt sie all die Ideale
wiederspiegeln, die von der modernen Werbung transportiert werden: Blütenweiße
Reinheit, ewige Jugend, Überwindung des Todes, schlanke Linie und – trotz Flug –
immer eine perfekte Frisur. Nicht zuletzt den beiden frivolen Engels-Putten,
die zu Füßen Raffaels „Sixtinischer Madonna“ dargestellt sind, verdanken wir die
Tatsache, dass auch das Kindchenschema mit Engeln zusammenwuchs. Mutti kann
also auch beim Gedanken an Engel den Babymodus aktivieren, wobei ihre Pupillen
auf das Niveau eines japanischen Comic-Sympathieträgers anwachsen.
Befragt man die Damen, was Engel so bedeutsam für sie macht,
dann wird man in der Regel mit zwei Aussagen konfrontiert, die eng miteinander
verknüpft sind:
Zunächst wird davon ausgegangen, dass die Seelen verstorbener
Verwandter nicht im Nirwana verwehen, sondern, jedenfalls wenn die betreffende
Person reinen Herzens war und stets rechtschaffend handelte, nach dem Tod zum
Engel wird und auf diesem Wege Teil sowohl der himmlischen, wie auch der
irdischen Welt sein kann.
Zweitens übernehmen diese geliebten Verstorbenen die
Funktion des Schutzengels. Stets sind sie da und halten ihre schützende Hand
über uns, wenn Gefahr droht oder Trost benötigt wird.
Ich möchte kein Urteil darüber fällen, wie wahrscheinlich
und begründet dieser Engelsglauben ist. Abschließend und zusammenfassend soll
aber bemerkt werden, dass das Konsumprodukt Engelchen für die Dame, fast so
genial ist, wie Bier für den Herrn. Alles, was die durchschnittliche Frau
positiv finden kann wird bedient: Babys, Familie, Trost, Sauberkeit, Ordnung
und Geborgenheit werden relativ preiswert, transportabel, dekorativ und gesellschaftlich
anerkannt dargeboten. Zudem verspricht der Besuch eines adretten
Esoterik-Fachgeschäfts ein tolles Shopping-Erlebnis inklusive Sphärenklängen, empathischen
Ratgebern zu Leben und Suche nach der eigenen Mitte, freundlichen Tüchern in
aktuellen Modefarben und einem netten Verkäufer, der stets ein geheimnisvolles
Lächeln auf den Lippen zu haben scheint.
Ich hoffe, dass die himmlischen Heerscharen Ihnen gewogen sind, auch ohne dass Sie die deutsche
Engelchenindustrie zu neuen Rekordzahlen gebracht haben.
Philipp Heine
Ich habe mir mal einen gelben Engel angeschaut. "Babys, Familie, Trost, Sauberkeit, Ordnung und Geborgenheit" habe ich jetzt so nicht entdeckt. Ein bisshcne Ordnung vielleicht und geborgen habe ich auch gefühlt (etwas). Transportabel war er, durchaus dekorativ allerdings gesellschaftlich derzeit nicht so anerkannt. Wie es mit dem androgynen Outfit unter dem gelbem Overall ausieht, habe ich nicht recherchieren können. (Zu viel Verkehr).
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