Stets kritisch

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Sonntag, 13. April 2014

Ungerecht ist gemein!



Ungerecht ist gemein! - Von Philipp Heine

Als ich noch ein Kind war, gehörte zu meiner Persönlichkeit eine innere Stimme, die wie ein genetisch programmierter Ehrenkodex von mir verlangte, einen bestimmten Maßstab von Gerechtigkeit an meine Handlungen anzulegen. Die meisten anderen Kinder, mit denen ich zu tun hatte, gehorchten offenbar der gleichen Stimme, denn sie beschwerten sich jedes Mal lautstark, wenn dem anscheinend allgemeinen Ideal der Gerechtigkeit nicht entsprochen wurde. Diese Gerechtigkeitsvorstellung lässt sich am besten durch folgendes Bild skizzieren: 

Ein Kind holt aus der Küche eine Flasche Limonade und einige Gläser. Die Gläser werden nebeneinander auf dem Wohnzimmertisch aufgebaut. Mit kritischem Blick stehen alle vom Durst geplagten Halbwüchsigen um den Tisch herum. Noch näher rücken sie, als der Sprössling des Hauses mit dem Einschenken beginnt. Entdecken sie, dass ein Glas nicht die exakt gleiche Füllmenge, sondern mehr oder weniger Limonade enthält, wird lauter Protest hörbar, der nicht ohne die Begriffe „ungerecht“ und „gemein“ auskommt.

Nachdem ich Jahre später feststellen musste, dass diese Variante von Gerechtigkeit durchaus Schwächen hat, musste ich mein moralisches Empfinden etwas differenzieren. Etwa wenn zufällig ein sehr kleiner  tiefenentspannter Mann bei Raumtemperatur das gleiche Glas Wasser bekommen soll wie ein Hüne, der gerade in der Wüstensonne 500 Meter Schienen verlegt hat, dann wird die Rechtfertigung der Methode schwierig. Erstaunlicherweise gibt es erwachsene Menschen, die dennoch dem kindlichen Verteilschema treu geblieben sind. Man erkennt sie oft an der Vorliebe für rote Textilprodukte, den Klang von Schalmeien und Schiebermützen aus Leder.

Ist es falsch, jedem  die exakt gleiche Portion zuteilen zu wollen? Auf diese Weise wäre Gerechtigkeit extrem transparent und überprüfbar. Die eifrigen Verfechter in der politischen Landschaft setzen als gegeben voraus, dass die Durchsetzung von Gerechtigkeit zentrale Aufgabe des Staates und seiner Organe sei. Statt eines Dreikäsehochs soll also neben jedem Glas, in jeder Bank und an jeder Lohn- und Nahrungsausgabe ein freundlicher Herr mit Schlapphut, oder ein von ihm inoffiziell beauftragter Zivilist stehen, der über Maß und Ordnung wacht.
Da dieses Bild, besonders bei den älteren Bürgern, negative Assoziationen wecken könnte, müssen sich die Vorkämpfer gegen die Unterdrückung des kleinen Mannes mit Argumenten und Positionen schmücken, die jeden Kritiker automatisch zu einem Unmensch und menschlichen Raubtier degradieren. Eine dieser Positionen besteht im bedingungslosen Pazifismus. Für einen Kommunisten ist Pazifismus nahezu ein Geschenk des nicht existierenden Gottes. Studentinnen von Sozialwissenschaften bekommen bei der bloßen Erwähnung feuchte Augen, Gegner beginnen, die Bewegung für harmlose Spinner zu halten und werden weniger wachsam, Bündnisse mit westlichen Partnern, die auch auf Verteidigung beruhen, werden ausgehöhlt, so dass man auf eine ungemein praktische Isolation zusteuert, die das Salz in der Suppe jeder Diktatur des Proletariats ist.

Das Einzige, was noch zur moralischen Vollkommenheit fehlt, ist das wiederholte und öffentliche Bekenntnis, dass jede Idee, jeder Mensch und jedes Produkt, dass in den Vereinigten Staaten von Amerika entstanden ist umweltschädlich, ausbeuterisch, zu kalorienreich und geistig minderbemittelt sei.

Ein heutiger Student der Politik- und Sozialwissenschaften lernt angesichts dieser Tatsachen zwei wesentliche Fakten, wenn er das vierte Semester abgeschlossen hat: Wie man seinen Namen schreibt und wo man bei der Wahl sein Kreuz machen muss, um in Gleichheit und Gerechtigkeit, in blühenden Landschaften und rauschenden Wäldern und unter einfachen und naturnahen Menschen zu leben. Wie schön wäre es doch, wenn alle wieder bei Kerzenschein am Webstuhl oder Spinnrad sitzen dürfen, um rotes und grünes Tuchwerk herzustellen. Keine Angst mehr vor dem Klimawandel, kein Feinstaub und keine hektische Mobilität. Globalisierung und oberflächliche Vergnüglichkeiten von Übersee wären Albträume der Vergangenheit. In den Eiskästen lägen wieder Produkte aus der direkten Nachbarschaft, gerecht rationiert und zu wenig, um Fett anzusetzen. Die Kinder würden wieder mit Fackeln und Trommeln in der Natur spielen, statt Mützen verkehrt herum zu tragen und so zu tun, als kämen sie aus den Slums und Ghettos von Bielefeld oder Paderborn. Eine friedliche Welt, in der höchstens die Gefahr bestünde, dass die Russen kommen, doch das wäre immerhin moralisch vorteilhafter, als Sklave der amerikanischen Spaßgesellschaft zu sein. Mit einem Seufzen tropft bei diesen Gedanken eine Träne der Rührung in den Müsli.

Schade nur, dass das Gerechtigkeitsempfinden subjektiver Art ist. Das bedeutet, dass selbst in einer Welt, die auch nach den höchsten Ansprüchen der heutigen Zeit vollkommen ist, ein Großteil der Einwohner unzufrieden wäre und über die maßlose Ungerechtigkeit schimpfen würde.

Ich wünsche uns allen, dass es übereifrigen Gerechtigkeitsvertretern nicht gelingt, zwei gleichvollen Gläsern Freiheit und Wohlstand zu opfern. Das wäre gemein!

Philipp Heine

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