Stets kritisch

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Dienstag, 10. Juni 2014

Im Netz der Verschwörungen

Im Netz der Verschwörungen – Von Philipp Heine


In einer normalen Familie, in einer normalen Stadt lebte einst ein normaler Junge. Er hieß Kjell-Kevin und hatte erfolgreich sein Abitur abgeschlossen. In der Schule hatte er gelernt, dass es Binomische Formeln gibt, mit denen man irgendetwas berechnen kann, ebenfalls dass Mitose und Meiose etwas mit Sex zu tun haben. Es war auch von einem Shakesbeer die Rede. Außerdem hatte er sich eingeprägt, dass Ramses, Nero und Hitler die Vorgänger von Angela Merkel waren. In den Pausen hatte er sich mit Hilfe von Smartphone und Facebook auch Lesen und Schreiben beigebracht. Nun war seine Zeit gekommen: Die Welt lag ihm zu Füßen und wartete nur auf all die Neuerungen, die er ihr bescheren würde. Er entschloss sich also, an der Universität Meppen Sozial- und Ökoesoterik zu studieren.

Auch wenn er mit all diesen Fremdwörtern, die nun auf ihn einregneten, nicht viel anfangen konnte, so begriff er doch bald, dass in dieser Welt geheimnisvolle Mächte am Werke waren und dass nicht alles so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Bereits seine Eltern, von denen es heißt, dass sie damals mit Blumen im langen Haar und nackt gegen das Establishment kämpften, hatten gesagt, dass das Wichtigste sei, alles zu hinterfragen.

Kjell-Kevin hatte immer Zweifel am Sinn antiker Medien, wie etwa von Büchern oder Zeitungen, gehabt. Nun stellte er zu seiner Beruhigung fest, dass diese nur dazu dienen, die einfachen Bürger zu indoktrinieren und mit falschen Informationen gefügig zu halten. Schemenhaft begann ein Bild von der finsteren Realität und zugleich von seiner Mission zu entstehen.

Da er nur von durchschnittlicher Erscheinung und Intelligenz war, musste Kjell-Kevin erkennen, dass sein einziger Weg zum weiblichen Schoße auf Glauben, Charisma und öffentlich vorgetragener Überzeugung beruhte. Er war berufen, den Kampf gegen das Böse aufzunehmen und Lara-Chantall aus dem Seminar über maoistisches Häkeln tief zu beeindrucken.

Nach und nach lichtete sich der Schleier, und mit Entsetzen verstand er das Ausmaß all der Verschwörungen, die die Welt wie ein Spinnennetz umschlossen. In Amerika hatten sich, verborgen in einem finsteren Gewölbe der Yale-University, Politiker, kapitalistische Wirtschaftsbosse, Freimaurer, Illuminaten, Juden und Faschisten zusammengerottet, um – begleitet von schrillem Lachen – ihr Geld und ihre Macht durch den Handel mit Öl, Waffen und Plutonium zu mehren.

Sie gaukelten der Welt vor, dass man auf dem Mond gelandet sei, dass der 11. September von Islamisten und nicht von Beauftragten der Regierung ausgelöst wurde und dass die Russen die Eroberung der Ukraine geplant hätten. Sie gingen sogar soweit zu behaupten, dass es niemals Kontakt zu Außerirdischen gegeben hätte.

Natürlich dementierten und widerlegten Wissenschaftler und Politiker alle Vorwürfe. Dies war aber nur der Beweis dafür, dass auch Presse und Wissenschaft zu dem perfiden Netzwerk der geheimen Oberen gehörten. Kjell-Kevin stand einsam einem unermesslichen Gegner gegenüber. Er traf nur auf eine kleine Schar von Mitstreitern, die er etwa in Freikirchen und auf Kundgebungen der Piraten getroffen hatte. Auch sie hatten klare Beweise für das dunkle Imperium im Internet gefunden. Mittlerweile war es ihm auch gelungen, Lara-Chantall zu zeigen, wo sich bei ihm Mitose und Meiose abspielten. Es wurden konspirative Treffen abgehalten, auf denen man in Online-Rollenspielen den Ernstfall probte. Die Wände wurden mit Aluminiumfolie und Eierkartons gegen das Ausspähen durch die Geheimdienste abgeschirmt und die Rechner verschlüsselt. Langsam wuchs die Gruppe der Gefährten.

Es war logisch und folgerichtig, dass diejenigen, die in den infiltrierten Medien als Bedrohung dargestellt werden, potentielle Hoffnungsträger und Verbündete sein konnten. Natürlich wurden in Moskau, Pjöngjang und Islamabad auch Fehler gemacht, doch immerhin sagten die dortigen Potentaten ehrlich und offen ihre Meinung und isolierten sich von den Verschwörern des Westens. Sie bewiesen auch, dass sie gegenüber dem alten und korrupten System hinter seiner Fassade von Demokratie und Menschenliebe durch ihre uneingeschränkte Macht und Führungsstärke  überlegen waren.

Kjell-Kevin war begeistert: Mit Frisuren, Piercings, lauter Musik oder hässlichen Klamotten war es ihm nicht gelungen, seine Eltern oder irgendwelche anderen Menschen zu schockieren oder zum Überdenken der althergebrachten Werte zu bewegen. Das Schwenken der Flagge von Nordkorea funktionierte. Er hatte den Spagat zwischen Revolution und moralischem Handeln geschafft. Er war zum Eremiten-Krieger geworden und hatte das Licht gesehen. Hinter einer Anonymous-Maske verborgen demonstrierte er auf Kundgebungen und  betätigte sich als Pfadfinder und Prediger im Dschungel des Internets. Ein wahrer Held, der es verdient hat, auf das Zölibat zu verzichten.

Wenn man heute vorsichtig und ganz leise in Internetforen blickt und lauscht, dann können wir Kjell-Kevin dort finden, auch wenn er sich vielleicht fackUnsa69 nennt.


Ich wünsche uns allen, dass es Kjell-Kevin nicht gelingt, eine scharfe Waffe in die Hände zu bekommen.



Philipp Heine